Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Universalgelehrter, der einer religiösen Sekte namens Assassinen beitrat, und im 14. Jahrhundert der Zeitmesser einer Moschee in Damaskus. Diese beiden trugen mehr als jeder andere dazu bei, dass der von Ibn al-Haytham angestoßene Prozess sich fortsetzte.
Nasr al-Din al-Tusi wurde 1201 in der Stadt Tus (auf die schon sein Name hinweist) im ostpersischen Khurasan geboren. Die Stadt war zu jener Zeit eine der größten und wichtigsten ganz Persiens und auch der Geburtsort anderer bemerkenswerter Persönlichkeiten, unter ihnen Jabir ibn Hayyan und des Dichters al-Firdawsi. Selbst im Vergleich mit einigen der schillernden Gestalten, die uns bisher bereits begegnet sind, war al-Tusi eine faszinierende Persönlichkeit. Bei seinem Vater, einem angesehenen schiitischen Geistlichen, studierte er Theologie, von seinem Onkel lernte er aber auch Logik, Philosophie und Mathematik. Er beendete seine Ausbildung in der Stadt Nishapur und erwarb sich schnell einen Ruf als ausgezeichneter Gelehrter. Aber in Khurasan herrschten unruhige Zeiten: Von Osten rückten die Mongolen näher, und angesichts dieser Bedrohung konnte al-Tusi sich nicht im akademischen Leben einrichten. Also nahm er die Einladung an, sich einer religiösen Geheimsekte namens Hashashin oder Assassinen anzuschließen und sich in deren relativ sichere Gebirgsfestung zurückzuziehen.
Die Assassinen waren ein Ableger der ismailitischen Schiiten, die sich von der Fatimidendynastie abgespalten hatten und anfangs östlich der Fatimidenhauptstadt Kairo, im heutigen Syrien, Irak und Iran, verbreiteten Zuspruch fanden. Wenig später jedoch waren sie isoliert und an den Rand gedrängt. Im Jahr 1090 zogen sie sich unter Leitung ihres charismatischen Anführers Hassan-i-Sabbah in das Alborz-Gebirge im Nordiran zurück, wo sie die Kontrolle über eine Reihe strategisch wichtiger Festungen übernahmen und ihr Hauptquartier in dem auf einem Berggipfel gelegenen Schloss Alamut (»Adlernest«) einrichteten.
In Alamut ließ sich auch al-Tusi nieder. Nach Angaben mancher Autoren wurde er gefangen genommen: Ob er den Ort hätte verlassen können, wenn er es gewollt hätte, ist nicht geklärt. Der Name Assassinen leitet sich vermutlich von dem arabisch/persischen Wort hashish ab, das »Gras« bedeutet: Sie bauten auf dem fruchtbaren Ackerland rund um ihre Befestigungen eine Vielzahl verschiedener Kräuter an (und zwar im Gegensatz zu einer verbreiteten Geschichte nicht deshalb, weil sie von den Bergen herunterkamen und im Marihuanarausch gegen ihre Feinde kämpften, woher das Wort »Haschisch« stammt). Da sie nicht über eine konventionelle Armee verfügten, mit der sie das gegnerische Abassidenkalifat hätten bekämpfen können, verlegten sie sich auf heimliche Überfälle und Anschläge, womit sie unter der Bevölkerung Angst und Schrecken verbreiteten. Nachdem sie ihre politische Macht verloren hatten, wurden sie von der Dynastie der Mamelucken als Auftragsmörder zu festgelegten Honoraren beschäftigt.
Al-Tusi hatte Glück. Er entging nicht nur einmal, sondern sogar zweimal dem Schicksal der vielen hunderttausend Menschen, die von den Mongolen getötet wurden. Um 1220 wurden die Städte Tus und Nishapur von der Mongolenarmee unter Hulagu Khan (ca. 1217–1265), einem Enkel von Dschingis Khan, vollständig zerstört. In Alamut dagegen konnte al-Tusi seine Studien fast 30 Jahre lang in einer relativ friedlichen Atmosphäre fortsetzen. Er baute eine Sternwarte sowie eine Bibliothek und konnte sogar andere Gelehrte anlocken, die mit ihm arbeiteten. Die Ruhe wurde erst 1256 gestört, als Hulagus Armee zum Vorgebirge von Alamut vordrang. Wenn man heute die Ruinen der Festung besucht, kann man sich kaum vorstellen, wie eine Armee ihre Mauern überwinden konnte, so abgelegen und unzugänglich thronen sie auf den zerklüfteten Felsen. Aber es gelang den Mongolen, die Festung einzunehmen und die Assassinen zu besiegen. Al-Tusi hatte natürlich seine eigenen Pläne und konnte den Anführer der Mongolen sehr schnell überzeugen, dass es sich lohnte, ihn zu verschonen. Je nachdem, welcher Seite man in der Geschichte glaubt, wurde er von den Mongolen entweder entführt oder gerettet. Manche Autoren beschuldigen ihn sogar, er habe sich verkauft und seinen ismailitischen Glauben allzu bereitwillig verraten.
Was seine Motive auch waren, die Welt sollte al-Tusi für seinen Überlebensinstinkt dankbar sein. Er konnte Hulagu dazu veranlassen, ihn als wissenschaftlichen Berater anzustellen und
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