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Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)

Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)

Titel: Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jim al-Khalili
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die Übereinstimmung der Buchstaben, mit denen die Punkte gekennzeichnet wurden. Wo bei al-Tusi ein alif steht, schreibt Kopernikus ein A, einem ba entspricht ein B, jim wird zu G, dal zu D und so weiter in der Reihenfolge der Buchstaben des arabischen Alphabets.
    Wie ist das möglich? War es bei Kopernikus’ großem Fortschritt nicht gerade der springende Punkt, dass das heliozentrische Modell sich von den »Reparaturen« des ptolemäischen Modells befreite, so schlau sie mathematisch auch sein mochten? Keiner der Astronomen von Maragha, auch nicht Ibn al-Shatir, hatte den revolutionären Schritt getan und sich vom geozentrischen Modell losgesagt (allerdings spielt der Unterschied zwischen helio- und geozentrisch für Ibn al-Shatirs Modell der Mondbahn keine Rolle, weil der Mond tatsächlich die Erde umkreist). Hier geht es um etwas Komplizierteres: Entscheidend ist nicht nur, dass Kopernikus sich der mathematischen Kunstgriffe bediente, die von der Schule von Maragha entwickelt worden waren, sondern dass er ohne sie auch nicht zu seinem endgültigen heliozentrischen Modell hätte gelangen können. Wie die Astronomen von Maragha, so machte sich auch Kopernikus anfangs viel mehr Gedanken über den Mangel an einheitlichen Bewegungen im ptolemäischen System, das auf Äquanten und Deferenten zurückgreifen musste. Mit seiner Vorgehensweise kam er so nahe an die der Astronomen von Maragha heran, dass Historiker ihn heute häufig als letzten, bemerkenswertesten Vertreter der Maragha-Schule und nicht als ersten modernen Astronomen betrachten. Die Schule von Maragha ist demnach das Bindeglied zwischen Ptolemäus und Kopernikus, und ohne sie ist kaum zu verstehen, wie die kopernikanische Revolution stattfinden konnte.
    Heute sind die meisten Historiker überzeugt, dass die von al-Tusi und Ibn al-Shatir entwickelten Modelle der Planetenbahnen ihren Weg (vielleicht über Konstantinopel) nach Europa fanden und Kopernikus die Anregung für seine astronomischen Modelle lieferten. Die Idee der Tusi-Paare könnte auch ohne die lateinische Übersetzung arabischer Texte nach Europa gelangt sein, eine genaue Übermittlungskette hat man aber bisher nicht nachgewiesen. Mehrere Manuskripte, in denen vom Tusi-Paar die Rede ist, haben sich in Italien, wo Kopernikus zwischen 1496 und 1503 studierte und die Theorien von Maragha kennengelernt haben könnte, bis heute erhalten.
    Aber ist das alles fair? Setzen wir in irgendeiner Form Kopernikus’ große Leistung herab, indem wir ihn ans Ende einer langen Kette von »Geozentrikern« stellen? Dass er die Hypothese des heliozentrischen Modells wieder einführte, war sicher ein Akt von großem intellektuellem Wagemut. Im Vorwort zu De revolutionibus erklärte Kopernikus Papst Paul III., dem er das Buch widmet, es habe ihn aus Angst vor Hohn und Spott große Überwindung gekostet, seine Theorie von der Bewegung der Erde um die Sonne zu veröffentlichen. Im weiteren Verlauf berichtet er, er sei fast geneigt gewesen, das Werk völlig aufzugeben, und nur die ständigen Beschwörungen seiner engen Freunde hätten ihn veranlasst weiterzumachen. [200]
    Was die Idee des heliozentrischen Weltbildes angeht, so ist heute klar, dass die Europäer im 16. und 17. Jahrhundert, auch Kopernikus selbst, über Aristarchus und sein früheres heliozentrisches Modell Bescheid wussten; Kopernikus war offenbar etwas enttäuscht, dass der Grieche ihm zuvorgekommen war. Er verschwieg den Namen Aristarchus sogar in seinen Schriften, abgesehen von einer Fußnote in einer frühen Fassung von De revolutionibus , die er später strich. [201]
    Die Mathematik, deren Kopernikus sich zur Entwicklung seines Modells der Planetenbahnen bediente, war also nicht das Einzige, was er aus der islamischen Welt übernommen hatte. Auch das heliozentrische System, auf das er sie anwandte, war bereits seit fast zwei Jahrtausenden bekannt (allerdings hatte man es im Wesentlichen ignoriert). Trotz alledem möchte ich George Sarton zitieren, einen der weltweit führenden Experten für islamische Astronomie. Er formuliert es so:
Es besteht sicher kein Zweifel an der Originalität oder genialen Leistung von Kopernikus; man sollte nicht unterstellen, dass er weniger klug war, weil er sich grundlegender Theoreme bediente, die man in der arabischen Astronomie schon zwei oder drei Jahrhunderte zuvor entdeckt und genutzt hatte. Ebenso besteht kein Zweifel, dass niemand anderes Anspruch auf die Theorie des heliozentrischen Weltbildes erheben kann, mit

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