Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
dem Wort lag, die kurze Laute sind und deshalb im Arabischen nicht geschrieben werden, ist mir nicht klar. Als Robert von Chester nun beim Übersetzen auf dieses Wort stieß, las er es fälschlich als jayb , was auf Arabisch »Tasche« bedeutet (und nicht, wie viele Fachleute behauptet haben, »Falte«, »Busen«, »Bündel« oder »Bucht«). Also benutzte er einfach das lateinische Wort für »Tasche«: sinus . Die Abkürzung »sin« findet sich zusammen mit »cos« und »tan« erstmals im 16. Jahrhundert in einer Veröffentlichung des französischen Mathematikers Albert Girard. Interessanterweise wird das Wort für Sinus im heutigen Arabisch tatsächlich jayb ausgesprochen.
Die Entstehung des trigonometrischen Sinus eines Winkels, beschrieben von hinduistischen Mathematikern.
Nach und nach sickerte die arabische Wissenschaft also nach Europa ein. Im Vergleich zum islamischen Großreich war Westeuropa zwar immer noch tief im dunklen Mittelalter gefangen, hier und da gab es aber aufgeklärtere Herrscher, die eine begrenzte Form von Gelehrsamkeit förderten. Ein Beispiel ist der Wikingerkönig Knut von England, Norwegen und Dänemark (Regierungszeit 1016–1035): Er lockte eine Reihe von Gelehrten aus Nordfrankreich nach England. Später förderte auch der Normannenkönig Wilhelm der Eroberer die Gelehrsamkeit, und wir können beobachten, dass gegen Ende des 11. Jahrhunderts der Mathematiker Robert von Lothringen und der Astronom Walcher von Malvern nach England kamen. Walcher gilt als der erste englische Astronom; bekannt wurde er, weil er mit Hilfe eines Astrolabiums die Dauer mehrerer Sonnen- und Mondfinsternisse bestimmte und eine Reihe von Tabellen für den Zeitpunkt des Neumondes berechnete. Er war auch der erste englische Gelehrte, der das Arabische beherrschte, und übersetzte als einer der Ersten arabische Abhandlungen ins Lateinische.
Wie wir bereits erfahren haben, begann die Vermittlung der arabischen Wissenschaft nach Europa im 10. Jahrhundert mit Männern wie Gerbert d’Aurillac. Diese Entwicklung gewann in den folgenden Jahrhunderten an Tempo, insbesondere nachdem immer mehr andalusische Zentren durch die Reconquista wieder unter christliche Herrschaft kamen. Aber Spanien war nicht der einzige Ort der Vermittlung. Zwei andere bedeutsame Städte waren Venedig, das Handel mit vielen Dynastien der muslimischen Welt trieb, und Palermo, die Hauptstadt Siziliens.
Im Jahr 1061 landete der normannische Herzog Roger Guiskard mit seiner Armee an der Küste Siziliens. Im Laufe der folgenden 30 Jahre entriss er den muslimischen Herrschern der Insel nach und nach die Macht. Er regierte unter dem Titel eines Großherzogs Roger I. und war dabei so pragmatisch, den Regierungsapparat der Araber zum größten Teil zu übernehmen. Wie die muslimischen Herrscher vor ihm, so waren auch die Normannen anfangs sehr tolerant gegenüber anderen Religionen, und Sizilien blieb ein Land der religiösen Freiheit: Hier lebten Muslime und Juden friedlich mit katholischen und orthodoxen Christen zusammen, und Hebräisch, Arabisch, Latein und Griechisch waren als Amtssprachen anerkannt. Sein Sohn Roger II. regierte 42 Jahre (1112–1154), die meiste Zeit davon als König; unter seiner Herrschaft wurde Sizilien zu einem mächtigen, wohlhabenden Königreich, zu dem die ganze Südhälfte Italiens gehörte; die Hauptstadt Palermo entwickelte sich zu einem der wichtigsten kulturellen Zentren Europas. Roger II. ist uns zuvor bereits begegnet: Für ihn schrieb der große andalusische Geograph al-Idrisi sein berühmtes Buch Rogers .
Inwieweit stand Europa eigentlich tatsächlich im Schatten des islamischen Großreiches? Jede Form origineller wissenschaftlicher Gelehrsamkeit in Europa während des Goldenen Zeitalters des Islam zu leugnen wäre falsch: Wohin und in welche Phase der Weltgeschichte man auch blickt, immer gab es an einzelnen Stellen intellektuelle Aktivität und hervorragende Leistungen. Zwei leuchtende Beispiele und originelle Denker, die im Dunkel des Mittelalters leuchteten, waren der Italiener Thomas von Aquin (ca. 1225–1274) und der Engländer William von Ockham (ca. 1288–1347). Ansonsten gab es aber bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, als Renaissance-Genies wie Leonardo da Vinci auf der Bildfläche erschienen, kaum christliche Gelehrte, die mit ihren Leistungen an ihre muslimischen Zeitgenossen heranreichen. In der Renaissance schließlich besaßen europäische Universitäten die lateinischen Übersetzungen der Werke
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