Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
klaren »Bruch« mit dem Denken und den Lebensweisen des Mittelalters dar; insbesondere, so hieß es, habe die »wissenschaftliche Revolution«, die Mitte des 16. Jahrhunderts begann, den Anfang der Neuzeit angekündigt. Heute sieht man darin richtigerweise eher die Beschleunigung eines Prozesses, der bis in die Antike zurückreicht. Wie ich zuvor ausführlich dargelegt habe, ist es sicher falsch, die Entstehung der Wissenschaft oder der naturwissenschaftlichen Methode in die Renaissance zu verlegen. Man kann in ihr vielmehr die »Wiedergeburt« einer europäischen Gelehrsamkeit sehen, die lange verlorengegangen war; ihre Ursache hatte die Wiederbelebung zu einem nicht geringen Teil in der Entdeckung griechischer und arabischer Texte sowie ihrer Übersetzung ins Lateinische, genau wie islamische Gelehrte vorher die Werke der griechischen Antike, die in Vergessenheit geraten waren, wiederentdeckt hatten. Von Bedeutung ist natürlich vor allem, dass die Wissenschaftler der Renaissance durch die Eroberung Spaniens Zugang zu Reichtümern wie den Bibliotheken von Toledo, Córdoba und Granada erhielten.
Interessant ist die Frage, warum die Renaissance in Florenz und nicht anderswo in Europa oder auch in einer anderen Stadt Italiens ihren Anfang nahm. Manche Historiker vermuten, es sei einfach Glück gewesen, dass Florenz zum Geburtsort der Renaissance wurde – große Gestalten wie Leonardo da Vinci, Sandro Botticelli und Michelangelo wurden zufällig ungefähr zur gleichen Zeit in der Toskana geboren. Aber diese Männer konnten nur wegen des allgemeinen kulturellen Umfeldes so berühmt werden, genau wie Bagdad im 9. Jahrhundert den Aufschwung einer wissenschaftlichen Strömung unter Leitung von Personen wie al-Kindi und al-Khwarizmi ermöglichte. Viele Historiker haben auf die wichtige Rolle der Familie Medici hingewiesen: Diese finanzierte und stimulierte die Künste auf eine Weise, die an die Rolle der frühen Abassidenkalifen denken lässt.
Wenn wir uns noch einmal in Erinnerung rufen, wie al-Ma’mun dafür sorgte, dass das Haus der Weisheit von einer Palastbibliothek zu einem der vielleicht größten Zentren der Gelehrsamkeit in der Geschichte wurde, so können wir einschätzen, welche entscheidende Rolle der Kalif als Mäzen der Gelehrten spielte und wie stark eine längere Phase mit Frieden und Wohlstand dazu beitrug, dass die wichtigsten Köpfe mit ihrer ansteckenden Begeisterung, Leidenschaft und Motivation zusammentreffen konnten. Wie man ebenfalls erkennt, waren spätere, schwächere Kalifen selbst im Bagdad des 9. Jahrhunderts weniger geneigt, wissenschaftliche Tätigkeit zu fördern und zu finanzieren, und dies war zwangsläufig mit einer Verlangsamung des wissenschaftlichen Fortschritts verbunden.
In neuerer Zeit, nämlich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, setzte erneut eine Phase schneller wissenschaftlicher Fortschritte ein. Auch hier war es nach meiner Überzeugung kein Zufall, dass in dem neugegründeten Institut von Niels Bohr in Kopenhagen Genies wie Werner Heisenberg, Paul Dirac und Wolfgang Pauli zusammentrafen, die alle zur Entwicklung der neuen Atomtheorie beitrugen. Immer ist es in der Geschichte irgendwann so weit, dass sich Gelegenheiten bieten und die soziopolitischen Voraussetzungen günstig sind, und dann gibt es Persönlichkeiten, die sich der Herausforderung stellen.
Eine weitere Parallele zwischen dem Goldenen Zeitalter des Islam und der europäischen Renaissance ist die zwischen den rationalistischen Mu’taziliten in Bagdad und der humanistischen Bewegung in Italien, die sich in Gestalten wie Niccolò de Niccoli (1364–1437) und Poggio Bracciolini (1380–1459) verkörperte. Wie die Mu’taziliten, so betonten auch die Humanisten die außerordentlich große Fähigkeit des menschlichen Geistes, seine Umwelt rational zu betrachten und zu verstehen. In der Renaissance wandelten sich zweifellos sowohl unsere Sicht auf das Universum als auch die Methoden, mit denen die Wissenschaft sich um die Erklärung natürlicher Phänomene bemühte. Während sich in der Abassidenzeit Wissenschaft und Religion vermischten, kam es in der Frührenaissance zu einer Überschneidung von Wissenschaft und Kunst: Leonardo da Vinci und andere fertigten Zeichnungen ihrer Beobachtungen von Anatomie und Natur an.
Aber die Kernthese des vorliegenden Buches lautet ja: Die am häufigsten genannte, bedeutsamste Entwicklung jener Epoche, die Geburt der modernen naturwissenschaftlichen Methode, fand
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