Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Herzhälften trennt, von der rechten in die linke Herzkammer. Ibn al-Nafis, einer der besten Anatomen des Mittelalters, stellte diese Vorstellung als Erster in Frage und lieferte die richtige Erklärung. In seinem Manuskript Sharh Tasrih al-Qanun ( Kommentar zur Anatomie in Ibn Sinas Kanon ) stellt er fest:
Das Blut aus der rechten Herzkammer muss in der linken ankommen, aber zwischen ihnen gibt es keinen direkten Weg. Die dicke Herzscheidewand ist nicht durchlöchert und hat weder sichtbare Öffnungen, wie manche Menschen glaubten, noch unsichtbare Poren, wie Galen dachte. Das Blut aus der rechten Herzkammer muss durch die Vena arteriosa (die Lungenarterie) in die Lunge fließen, sich in ihrer Substanz ausbreiten und mit Luft mischen, und durch die Arteria venosa (Lungenvene) in die rechte Kammer des Herzens gelangen …
So eindrucksvoll dieser Fortschritt der medizinischen Kenntnisse auch ist, die Vorstellung vom »Lungendurchgang« ist nicht mit einem Lungenkreislauf gleichzusetzen; Ibn al-Nafis erklärt nicht, wie das Blut im Kreislauf von der linken Herzkammer in die rechte zurückkehrt; deshalb sollte man vorsichtig sein und ihm nicht das Verdienst zuschreiben, den Blutkreislauf vollständig entdeckt zu haben. [210] Es gibt aber Anhaltspunkte, dass seine Arbeiten in lateinischer Übersetzung im 16. Jahrhundert manchen europäischen Ärzten bekannt waren, unter ihnen Michael Servetus, Andreas Vesalius und Renaldus Colombo. Sie alle könnten ihrerseits Harvey beeinflusst haben. Dieser beschrieb schließlich korrekt, wie das Blut zirkuliert und vom Herzen gepumpt wird. (Aber selbst Harvey verstand die physiologischen Vorgänge in der Lunge nicht, durch die Kohlendioxid aus dem Blut entfernt und durch Sauerstoff ersetzt wird – dies wurde erst im 18. Jahrhundert durch die Arbeiten des Chemikers Antoine Lavoisier klar.) Das alles zeigt einfach wieder einmal, was für ein allmählicher, additiver Prozess der wissenschaftliche Fortschritt ist.
Ibn al-Nafis wurde in Damaskus geboren, seine Karriere spielte sich aber zum größten Teil in Kairo ab. Auch er war ein Universalgelehrter, der lange nach dem Goldenen Zeitalter Bagdads eine ganze Reihe von Beiträgen auf vielen Fachgebieten lieferte. Er war ein angesehener Historiker, Sprachforscher, Astronom, Philosoph, Logiker und Romanautor. In der Medizin entwickelte er als Erster die Vorstellung von einem Stoffwechsel; viele Wissenschaftshistoriker halten ihn für den größten Physiologen des Mittelalters und einen der größten Anatomen aller Zeiten.
Der einzige unter allen großen Denkern der islamischen Welt, der nach meiner Einschätzung meinem Triumvirat von Genies aus dem 11. Jahrhundert – Ibn al-Haytham, Ibn Sina und al-Biruni – ebenbürtig war, ist der tunesische Universalgelehrte Ibn Khaldun (1332–1406). Dass ich zuvor noch nicht über ihn berichtet habe, liegt einerseits daran, dass er lange nach der Zeit lebte, die im Allgemeinen als Goldenes Zeitalter angesehen wird, andererseits vollbrachte er aber seine größten Leistungen auch nicht in den Naturwissenschaften, sondern in Geschichtsforschung und Sozialwissenschaft. Was aber die Anzahl der Fachgebiete angeht, in denen er Hervorragendes leistete, so kann er in jeder Hinsicht mit al-Biruni mithalten.
Der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Joseph Schumpeter untersuchte im 20. Jahrhundert sehr eingehend die Geschichte der Wirtschaftstheorie bis zurück zu Aristoteles. Nach seiner Ansicht war Ibn Khaldun zweifellos der wahre Vater der Wirtschaftswissenschaft. Es lohnt sich sogar, ihn mit Adam Smith zu vergleichen, den viele Fachleute für den Vater der modernen Wirtschaftstheorie halten. Betrachtet man nämlich die schiere Anzahl origineller Ideen und Beiträge aus vielen Bereichen der Wirtschaft, die auf Ibn Khaldun zurückgehen, so besteht absolut kein Zweifel, dass er den Titel eher verdient. [211] Ibn Khaldun entdeckte eine Reihe entscheidender wirtschaftlicher Zusammenhänge schon mehrere hundert Jahre vor ihrer »offiziellen« Geburt; dazu gehören die Vorteile und die Notwendigkeit der Arbeitsteilung (vor Smith), das Prinzip des Wertes von Arbeit (vor David Ricardo), eine Bevölkerungstheorie (vor Thomas Malthus) und die Rolle des Staates in der Wirtschaft (vor John Maynard Keynes). Auf der Grundlage solcher Konzepte baute er dann ein zusammenhängendes, dynamisches System der Wirtschaftstheorie auf. [212]
Damit war er nicht nur ein Vorläufer der europäischen
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