Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Wirtschaftswissenschaftler, sondern er verfügte über einen so überragenden Verstand, dass er auch als unumstrittener Gründer und Vater der Sozialwissenschaft gilt. Sein bekanntestes Werk ist die Muqaddima , was in wörtlicher Übersetzung »Einleitung« oder »Prolog« bedeutet. Beide Worte werden dem Inhalt aber eigentlich nicht gerecht; richtiger müsste man den Titel mit Die Grundlagen übersetzen. In dieser Abhandlung über die Zivilisation der Menschen erörtert Ibn Khaldun ausführlich das Wesen von Staat und Gesellschaft. Es ist eigentlich der erste Band einer größeren Abhandlung, die sich mit der Geschichte der Araber beschäftigt, aber auch jene Staaten und Menschen behandelt, die nach Ibn Khalduns Ansicht eine historisch bedeutsame Rolle gespielt hatten. Der Historiker Arnold Toynbee erklärte, die Muqaddina sei zweifellos »das größte Werk seiner Art, das jemals zu irgendeiner Zeit oder an irgendeinem Ort erdacht wurde«. [213]
Meine letzte Persönlichkeit ist ein Mathematiker aus dem 15. Jahrhundert, der in einem blühenden Zentrum der Wissenschaft arbeitete. Dies straft die Vorstellung Lügen, zu jener Zeit seien alle Reste des Goldenen Zeitalters ein für alle Mal verschwunden gewesen. Er hieß Jamshid al-Kashi (ca. 1380–1429) und ist mit weitem Abstand der größte Mathematiker des 15. Jahrhunderts. Er war in der Stadt Samarkand unter dem großen Ulugh Beg tätig, dem Enkel des Mongolen Tamerlan, der die zentralasiatische Herrscherdynastie der Timuriden begründete (die später in Indien das Mogulreich schufen, das bis ins 19. Jahrhundert erhalten blieb). Ulugh Beg war selbst als Mathematiker und Astronom alles andere als eine Niete, und so gelang es ihm, viele große Denker in die Stadt Samarkand zu locken, zu jener Zeit eines der wenigen echten Zentren weltweiter Gelehrsamkeit. Er erbaute eine beeindruckende Sternwarte, die zur natürlichen Nachfolgerin von Maragha wurde, und seine Astronomen stellten 1437 das Zij-al-Sultani fertig, ein zij , das in den Augen vieler Autoren noch bedeutsamer ist als al-Tusis Ilkhani-Tafeln. Es führt nahezu 1000 Sterne auf und war der umfassendste Sternenkatalog, der in der Zeit zwischen Ptolemäus und Tycho Brahe erstellt wurde.
Al-Kashi kam um 1417 nach Samarkand. In Kapitel 7 habe ich bereits sein Werk Schlüssel des Rechnens erwähnt, das maßgebliche Buch über Dezimalbrüche. Mit Hilfe von Dezimalbrüchen nannte er auch einen Wert für Pi, den er bis auf 16 Stellen genau berechnet hatte. Besonders eindrucksvoll ist an dieser Leistung, dass er im Voraus genau erklärt, welche Anforderungen er an die Genauigkeit seines Ergebnisses stellt und mit welcher Präzision er deshalb in den einzelnen Stadien seiner langwierigen Berechnung vorgehen muss, um das gewünschte Endergebnis zu erhalten. Er erklärt sogar, der Wert solle so genau sein, dass man den Umfang des Universums (nach den damals geschätzten Abmessungen) mit seiner Hilfe auf die Dicke eines Pferdehaares genau berechnen könne. [214]
Al-Kashis bekanntester Beitrag zur Mathematik ist jedoch die erste Ableitung der Kosinusregel in der Trigonometrie: Mit ihrer Hilfe kann man die Länge einer Seite jedes Dreiecks berechnen, wenn man einen Winkel und die Länge der beiden anderen Seiten kennt. Im Französischen ist diese Regel noch heute als théorème d’al-Kashi bekannt.
Vor einigen Jahren beteiligte ich mich bei der Londoner Royal Society an einer fröhlichen Diskussion über die Frage, ob Isaac Newton oder Albert Einstein den Titel des größten Wissenschaftlers aller Zeiten verdient hat. Ich wurde gebeten, die Position für Einstein zu vertreten. Mit meiner Argumentation ging ich von der Voraussetzung aus, dass Einstein gezeigt hatte, warum Newtons Bild des Universums falsch war und durch eine umfassendere, genauere Beschreibung der physikalischen Realität ersetzt werden musste. Einsteins Spezielle Relativitätstheorie aus dem Jahr 1905 enthält weit mehr als nur die allgemein bekannte Gleichung E=mc 2 . Wie er zeigen konnte, muss man die drei Dimensionen des Raumes in einem einheitlichen Bild zusammen mit der Dimension der Zeit betrachten, und so etwas wie einen absoluten Raum oder eine absolute Zeit gibt es nicht. Zehn Jahre später wies er in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie nach, dass auch Newtons Bild von der Gravitation, die als unsichtbarer Klebstoff alle Körper im Universum zusammenhält, nicht genau zutrifft. Einstein formulierte damals die bis heute schönste
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