Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Errungenschaften in der islamischen Welt tatsächlich den heutigen Fortschritt der muslimischen Länder behindern; danach übersieht man mit solchen Erinnerungen den entscheidenden Unterschied zwischen der modernen Wissenschaft, die definitionsgemäß mit der wissenschaftlichen Revolution im Europa der Renaissance begann, und der mittelalterlichen Denkweise in der islamischen Welt, die, so die Behauptung, nicht mehr war als eine Art »Protowissenschaft«, ein grober Versuch, einen Sinn in einer Welt zu finden, die durch Theologie und Okkultismus verunklart war. Wäre es demnach nicht viel sinnvoller, wenn die muslimische Welt sich einen modernen, säkularen Rationalismus zu eigen machen würde, der sich auf die wissenschaftlichen Kenntnisse des 21. Jahrhunderts und eine moderne Einstellung gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt gründet? Schließlich bin ich selbst praktizierender Wissenschaftler und unverfrorener Atheist – warum sollte ich die Ansicht vertreten, dass Muslime in der modernen Welt nur dann wissenschaftlich vorankommen können, wenn sie sich die Denkweise der Zeit vor 1000 Jahren zu eigen machen?
Ich hoffe, ich habe hier überzeugend dargelegt, dass die Abgrenzung zwischen der mittelalterlichen Wissenschaft der islamischen Welt und der modernen Wissenschaft von überholten Vorstellungen ausgeht, in denen die Errungenschaften der islamischen Gelehrten in einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Fachgebiete entweder heruntergespielt oder nicht in vollem Umfang gewürdigt werden. Es stimmt zwar, dass der Fortschritt der Wissenschaft in der Geschichte häufig nur schubweise und mit langen Zwischenphasen der Stagnation verläuft, dieser Eindruck wird aber übermäßig verstärkt, wenn wir uns nur auf einen Teil der Welt konzentrieren. Der Fortschritt und die Entwicklung wissenschaftlicher Gedanken werden zu einem kontinuierlichen Prozess, wenn Gedanken sich entwickeln und verbreiten, weil Gelehrte aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Zivilisationen ihre Ideen austauschen und Texte übersetzen und kommentieren. Neue Ideen und Durchbrüche bleiben häufig unbekannt, so dass mehrere Personen unabhängig voneinander und manchmal sogar gleichzeitig darauf stoßen.
Natürlich stimmt es, dass die meisten wissenschaftlichen Fortschritte letztlich einzelnen Genies zu verdanken sind: Persönlichkeiten wie Newton und Einstein sorgten in unseren Vorstellungen von der Welt für Paradigmenwechsel. Das war aber nur möglich, weil sich zuvor viele kleinere Erweiterungen des Wissens angesammelt hatten, bis sie nicht mehr ignoriert werden konnten: Jetzt konnte man die bestehenden Ideen und Theorien nicht mehr aufrechterhalten, was eine revolutionäre Denkweise möglich machte. Mir geht es aber nicht um die wissenschaftlichen Errungenschaften als solche, sondern um die Kultur, die solche Errungenschaften möglich macht – eine Kultur, die das Wissen und Lernen ersehnt und respektiert.
In diesem Buch habe ich mich stets darum bemüht, nicht zu predigen, sondern einen vergessenen Teil der Geschichte – oder zumindest einen Teil, der nicht genügend bekannt ist – ans Licht zu holen. Ich weiß noch, wie ich als Junge im Irak nur im Geschichtsunterricht von al-Kindi, al-Khwarizmi, ibn Sina und ibn al-Haytham hörte, nicht aber in den naturwissenschaftlichen Fächern. Außerdem möchte ich die Menschen in der heutigen muslimischen Welt an ihr reiches wissenschaftliches und gelehrtes Erbe erinnern und deutlich machen, dass unsere heutigen Kenntnisse über die Natur zu einem nicht geringen Teil den Beiträgen der arabischen Wissenschaft zu verdanken sind; damit möchte ich ein Gefühl des Stolzes wecken und der wissenschaftlichen Forschung wieder die Bedeutung verschaffen, die ihr gebührt: Sie ist ein Kernstück dessen, was eine zivilisierte, aufgeklärte Gesellschaft ausmacht.
Heute gibt es auf der Welt weit mehr als eine Milliarde Muslime. Sie machen ungefähr ein Viertel der Weltbevölkerung aus und verteilen sich über viel mehr Länder als nur die 57 Mitgliedsstaaten der OIC (Organisation der islamischen Konferenz), in denen der Islam die offizielle Religion ist. Dazu gehören einige der reichsten Nationen der Welt, beispielsweise Saudi-Arabien und Kuwait, aber auch einige der ärmsten wie Somalia und der Sudan. In muslimischen Ländern wie den Golfstaaten, dem Iran, der Türkei, Ägypten, Marokko, Malaysia, Indonesien und Pakistan wächst die Wirtschaft seit etlichen Jahren stetig. Dennoch ist die islamische
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