Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
die Mathematik, Astronomie und Medizin eigentlich nicht beeinflussen dürfen – und größtenteils geschah das auch nicht. [206]
Noch weniger durchdacht ist das zweite Argument, mit dem häufig versucht wird, den Niedergang des originellen wissenschaftlichen Denkens in der islamischen Welt zu erklären. Es besagt, das Goldene Zeitalter sei 1258 mit der Zerstörung Bagdads durch die Mongolen ganz plötzlich abgebrochen; in diesem Jahr wurden die meisten Bücher im Haus der Weisheit von der mongolischen Armee unter Hulagu vernichtet. Die Berichte unterscheiden sich im Einzelnen, nach der Schätzung vieler Historiker wurde aber ein großer Teil der Stadtbevölkerung, die damals bei fast einer Million Menschen gelegen haben könnte, im Februar dieses Jahres innerhalb von nur einer Woche von den Mongolen ermordet. Der Angriff war so heftig, dass Bagdad sich nie mehr davon erholte: Nach 500 Jahren war die Herrschaft der Abassiden mit einem Schlag vorüber.
Dass das Goldene Zeitalter der islamischen Wissenschaft ein so tragisches, abruptes Ende fand, war sicherlich die Version, an die ich mich auch aus meinem eigenen Geschichtsunterricht damals in der Schule im Irak dunkel erinnere. Sie wird noch heute von vielen Bewohnern Bagdads vertreten, die sich nicht vorstellen können, dass anderswo im Großreich etwas Nennenswertes vorging. Aber Bagdad war Mitte des 13. Jahrhunderts in der arabischsprechenden Welt bei weitem nicht das einzige Zentrum der Gelehrsamkeit. Es gab zu dieser Zeit in ganz Nordafrika und Spanien, aber auch im Osten – in Persien und Zentralasien – mehrere Dutzend blühende wissenschaftliche Zentren. Gelehrte wie Ibn Sina und al-Biruni setzten vermutlich nie einen Fuß in die Stadt Bagdad. Die Zerstörung der Stadt im Jahr 1258 versetzte zwar dem Islam als Ganzem sicher einen entsetzlichen psychologischen Schlag, man kann aber dieses einzelne Ereignis nicht für alles verantwortlich machen.
Wenn es also weder an al-Ghazalis konservativer Haltung noch an der Eroberung Bagdads durch die Mongolen lag, wohin müssen wir dann blicken? Manche modernen Historiker aus der muslimischen Welt haben die Ansicht vertreten, der Hauptgrund für den Niedergang sei der Kolonialismus des Westens gewesen, andere dagegen behaupten, es habe eigentlich kaum einen Niedergang gegeben. Wie es zu dem zuletzt genannten Standpunkt kommt, kann ich verstehen: Er tritt zumindest der Ansicht entgegen, in dieser Region der Welt sei nach dem 12. Jahrhundert nichts Nennenswertes mehr geschehen – wie wir bereits erfahren haben, setzten sich wichtige astronomische Arbeiten an Orten wie Maragh und Damaskus noch bis weit ins 14. Jahrhundert hinein fort. Wenn überhaupt, setzte der Niedergang also langsamer und später ein, als üblicherweise behauptet wird. Und was politische Faktoren wie den Kolonialismus angeht, so spielten sie eher eine unterschwellige Rolle. Die Kolonialherren, die seit dem 18. Jahrhundert über viele Teile der islamischen Welt herrschten, hielten es für notwendig, die Errungenschaften der großen wissenschaftlichen Zentren, beispielsweise des Bagdads der Abassiden und des Córdoba der Umayyaden, herabzusetzen und herunterzuspielen. Nur so konnten sie ihr imperialistisches Überlegenheitsgefühl gegenüber vielen Teilen Afrikas und Asiens rational begründen und rechtfertigen. Dennoch kann niemand behaupten, sie hätten damit einen echten rationalen Forschergeist behindert oder die geniale Kreativität eines Ibn al-Haytham oder al-Biruni eingeschränkt. In Wirklichkeit waren diese glanzvollen Tage längst vorüber.
Ein gewichtiger Faktor war der Widerwille der muslimischen Welt und insbesondere des Osmanischen Reiches, die Druckerpresse schnell genug einzuführen. Besonders schmerzlich ist das, wenn man bedenkt, dass das erste in England gedruckte Buch, die Dictes and Sayings of the Philosophers (1477) [207] die englische (über das Lateinische und Französische) Übersetzung eines arabischen Textes war, der Ende des 11. oder Anfang des 12. Jahrhunderts entstand. [208] Wie kam es dazu, dass die Druckerpresse im islamischen Großreich alles andere als begeistert aufgenommen wurde?
Der Druck arabischer Buchstaben stellte die ersten Schriftsetzer vor weit größere Probleme als das Lateinische: Die arabische Schrift ist von ihrem Wesen her »kursiv«, und zusätzliche Komplikationen ergeben sich durch die Buchstabenverbindungen, wobei die Buchstaben je nach ihrer Stellung in einem Wort eine unterschiedliche Gestalt
Weitere Kostenlose Bücher