Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Amtssprache des Großreiches, und man erkannte sofort die Notwendigkeit, Texte aus dem Pachlevi ins Arabische zu übersetzen; diesem Vorhaben wurde die umfassende Unterstützung des Kalifen zuteil. Manche Texte waren persischen Ursprungs; andere, darunter viele medizinische, mathematische und astronomische Werke, waren ursprünglich aus dem Griechischen oder Indischen ins Pachlevi übersetzt worden und wurden in Städten wie Gondeshapur (arabisch Jundaysapur) benutzt. [20] Der erste und wichtigste Faktor, der die Übersetzungsbewegung in Gang brachte, war also die Versessenheit der Abassiden auf persische Kultur. Ein typisches Beispiel dafür lieferte ein Übersetzer, der gefragt wurde, warum er persische Bücher ins Arabische übersetzen wolle; darauf soll er geantwortet haben: »Wir [die Araber] haben all die Worte, aber sie [die Perser] haben all die Gedanken.« [21] Der Bedarf an Übersetzungen hatte anfangs ausschließlich praktische Gründe; offenbar galten sie als nützlich und notwendig.
Hier kommt der zweite Faktor ins Spiel: eine Leidenschaft für Astrologie. Die Ideologie der Sassaniden, die sich auf zoroastrische Mythen gründete, hatte für den Kalifen al-Mansur einen großen Reiz, und er entwickelte ein starkes persönliches Interesse an der Astrologie. Er wusste aber auch, dass er die Unterstützung der einflussreichen persischen Aristokratie benötigte, deren Mitglieder zum größten Teil nach wie vor Zoroastrier waren und sich nicht zum Islam bekehrt hatten. Sein Interesse an der Astrologie war also einerseits ehrlich und echt, andererseits kann man aber dahinter auch verborgene politische Motive vermuten. Die Astrologie war im Gegensatz zur Astronomie in der persischen Kultur verwurzelt und spielte im täglichen Leben der Perser eine grundlegende Rolle; in krassem Gegensatz dazu waren die Araber überzeugt, dass die Astrologie mit ihren Verbindungen zu Hellsehen und Wahrsagerei den Lehren des Islam widersprach. Die Kultur der Sassaniden hatte aber auf die Abassiden so großen Einfluss, dass die Astrologie in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts wieder auflebte. Am Hof des Kalifen waren Astrologen tätig, die Horoskope erstellen, Ratschläge erteilen und die Leistungen des Herrschers verherrlichen sollten. Wie al-Mansur sich von seinen drei führenden Astrologen beraten ließ, als es um den richtigen Tag für den Baubeginn der neuen Hauptstadt ging, haben wir bereits erfahren.
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die erste »wissenschaftliche« Disziplin, deren Werke systematisch aus dem Pachlevi ins Arabische übertragen wurden, die Astrologie war. Einer der ersten Texte war das ungeheuer einflussreiche, fünfteilige astrologische Werk Buch von der Nativität ( Kitab al-Mawalid ) des Propheten Zoroaster, das zwischen 747 und 754 erstmals ins Arabische übersetzt wurde. [22] Die Astrologie, das heißt die Kunst, Horoskope aus den Stellungen der Sterne abzuleiten, war zu einem ganz und gar anerkannten Wissensgebiet geworden. Sie wurde ’ilm al-nujum (Wissenschaft von den Sternen) genannt und nicht von Mathematik oder Astronomie ( ’ilm al-falak ) unterschieden; wer sich für astrologische Texte interessierte, war darauf erpicht, auch Sternenkarten und mathematische Tabellen in die Hand zu bekommen. Das anfängliche Interesse der Abassiden führte also ganz von selbst zu einer Suche nach astronomischen Texten, die bereits auf Pachlevi vorlagen oder noch in Sanskrit vorhanden waren, der Sprache der indischen Mathematiker und Astronomen.
Dem Astrologen Al-Fazari, einem Berater al-Mansurs, wird nicht nur der Bau des ersten Astrolabiums in der islamischen Welt zugeschrieben, sondern er wird auch mit der Übersetzung mehrerer astronomischer Texte aus dem Sanskrit ins Arabische in Verbindung gebracht. Es wurde sogar behauptet, er habe als Erster das Siddhanta , ein Werk des größten indischen Mathematikers und Astronomen Brahmagupta (598–668), ins Arabische übertragen. Man kann davon ausgehen, dass die Abassiden um diese Zeit zum ersten Mal in Kontakt mit der hinduistischen Astronomie kamen, aber Datum und Urheber der Übersetzung sind nicht gesichert: Um mehrere Gelehrte jener Zeit, die sich alle al-Fazari nannten, herrscht eine gewisse Verwirrung. [23]
Das Sanskrit-Wort Siddhanta bedeutet »Die Lehre« oder »Die Tradition«. Ursprünglich wurde das Werk, wie es der Tradition der indischen Mathematiker entsprach, ausschließlich in Versen verfasst. Enttäuschenderweise lieferte
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