Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Glaubenspraxis im Islam angeht, verständlicherweise ein wenig akademisch.
Eine schwerwiegendere Meinungsverschiedenheit zwischen Mu’taziliten und Literalisten hatte direktere, praktische Auswirkungen auf das Wesen des wissenschaftlichen Fortschritts: Nach Ansicht der Literalisten enthielten der Text des Korans und der Hadith (der aufgezeichneten Gespräche des Propheten) alles, was Muslime jemals über ihren Glauben wissen mussten; deshalb hielten sie philosophische Diskussionen und Überlegungen, wie sie von den Mu’taziliten und den Gelehrten des kalam praktiziert wurden, nicht nur für unnötig, sondern auch für unislamisch. Diese Sichtweise hat sich seither in manchen Gruppen ausgeweitet und führte zu der falschen Überzeugung, alles Wissen sei im Koran enthalten; was die Menschen nach Gottes Willen auch über die Naturgesetze und unseren Platz im Universum wissen sollen, so heißt es, stehe im Koran geschrieben, und deshalb sei wissenschaftliche Forschung sinnlos. Eine solche gefährliche Haltung vertreten noch heute manche Muslime; sie ist ein Grund für bestimmte wissenschaftsfeindliche Einstellungen, die den technischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in vielen islamischen Ländern behindert haben.
Ein anderes Problem, mit dem die islamische Theologie sich schon frühzeitig auseinandersetzen musste, war die Frage nach dem freien Willen. Da Gott allmächtig ist, so wurde argumentiert, ist alles von Gott vorherbestimmt und gelenkt; deshalb können die Menschen logischerweise keinen freien Willen haben. Die Mu’taziliten dagegen glaubten, aus der Formulierung der Anweisungen und Verbote im Koran gehe in Wirklichkeit hervor, dass wir bei unseren Taten durchaus eine Entscheidungsmöglichkeit haben, und da Gott gerecht sei, werde er nur diejenigen bestrafen, die die Wahl hatten und sich falsch entschieden haben.
Angesichts des Problems, dass es das Böse in der Welt gibt, nutzten die Mu’taziliten ihre Argumente über den freien Willen: Sie definierten das Böse als etwas, das aus den fehlerhaften Taten der Menschen erwächst. Gott tut nichts Böses und verlangt auch von keinem Menschen, Böses zu tun. Würden die bösen Taten der Menschen dem Willen Gottes entspringen, wäre Bestrafung sinnlos. Die Mu’taziliten leugneten nicht, dass es Leid gibt, das über Übeltaten der Menschen und den Missbrauch des gottgegebenen freien Willens hinausgeht. Um dieses »scheinbare« Böse zu erklären, griffen sie auf die islamische Lehre des taklif zurück – danach ist das Leben für Geschöpfe, die einen freien Willen und damit die Wahl haben, eine Prüfung. Alle diese Debatten waren natürlich nicht neu: Schon lange bevor es den Islam gab, hatten christliche und jüdische Theologen bereits über Themen wie den freien Willen oder das Wesen von Gut und Böse diskutiert.
In diesem Umfeld wuchs al-Ma’mun auf, und viele seiner Lehrer waren angesehene Mu’taziliten. Seine eigene Sympathie für die geistige Strömung machte er 827 deutlich: Er erklärte es zur offiziellen Doktrin, dass der Koran nicht ewig, sondern erschaffen ist. Diese Ansicht als solche war nicht umstritten, sondern unter den Theologen jener Zeit weit verbreitet; der Gedanke, sie sei nur auf die Mu’taziliten beschränkt gewesen, wäre falsch. [113] Aber 833, vier Monate vor seinem Tod, sicherte sich al-Ma’mun die oberste Autorität in allen religiösen Fragen durch seine mihna , ein Dekret, wonach alle Muslime die Lehre, dass der Koran erschaffen ist, anerkennen sollten. Sich selbst betrachtete er nicht nur als obersten politischen Führer eines islamischen Riesenreiches, sondern auch als Wächter des Islam selbst, dem Gott die letzte Wahrheit anvertraut hatte. Er hielt es für seine Pflicht, nicht nur den Staat politisch vor äußeren Kräften zu schützen, sondern auch für sein religiöses Wohlbefinden zu sorgen. Deshalb war es nach seiner Auffassung notwendig, das Volk zu erziehen und seine Ansichten in theologischen Fragen zu korrigieren.
Aus den Briefen, mit denen er seine mihna erließ, geht nicht eindeutig hervor, welche Anstrengungen er unternahm, damit sie auch umgesetzt wurde. Dieses dramatische Ereignis hatte nach Ansicht späterer Historiker Auswirkungen auf die ganze Bewegung der Mu’taziliten. Es hatte jedoch mehr mit al-Ma’muns Bemühungen zu tun, seine persönlichen theologischen Ansichten durchzusetzen, die ohnehin zu den Überzeugungen der meisten Theologen jener Zeit nicht im Widerspruch standen, und weniger
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