Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Diophantus, und es könnte auf den ersten Blick den Anschein haben, als sei sie höher entwickelt als al-Khwarizmis Prosa; aber wie ich in Kürze darlegen werde, stimmt das nicht. Und drittens schließlich gibt es die symbolische Algebra , die in grober Form ursprünglich von den Hindus entwickelt wurde, sich aber erst im 16. Jahrhundert in den Händen europäischer Mathematiker zu jener modernen Form weiterentwickelte, die heute in allen Sprachen und Kulturen der ganzen Welt gebräuchlich ist.
Sehen wir uns einmal an, wie die folgende Gleichung nach den drei genannten Methoden dargestellt wird. Heute schreiben wir sie symbolisch als 3 x 2 +5 x =22, rhetorisch lautet sie »drei Quadrate der Unbekannten, addiert zu fünf Unbekannten ist gleich zweiundzwanzig. In der synkopierten Algebra bediene ich mich der Schreibweise, die auch Diophantus selbst verwendete. Er hätte sie geschrieben als; dabei ist ζ das Symbol, das er für die Unbekannte benutzte (also sein x ), undist deren Quadrat. Für »+« gibt es kein Symbol, und das »=«-Zeichen wird als ισ geschrieben (die beiden ersten Buchstaben des griechischen Wortes für »gleich«). Das Symbolbezeichnet die konstante Zahl. Diophantus’ Schreibweise bestand also oftmals einfach aus den ersten ein oder zwei Buchstaben des Wortes für die jeweilige Größe oder Operation. Was die Zahlen anging, hielt er sich an die übliche Tradition seiner Zeit: Er benutzte das griechische Alphabet, wobei waagerechte Striche über den Buchstaben zur Unterscheidung von den Buchstaben dienten, die Operationen bezeichneten.
Wie man leicht erkennt, macht Diophantus’ Schreibweise die Lösung von Gleichungen keineswegs einfacher, und von einer vollständig symbolischen Algebra ist sie weit entfernt. Eigentlich ist sie nicht leistungsfähiger als die rhetorische Algebra eines al-Khwarizmi; der einzige Vorteil der Abkürzungen bestand darin, dass sie kostbaren Alexandria-Papyrus einsparten. Andererseits war al-Khwarizmis Prosa zumindest für mittelalterliche Übersetzer sicher leichter verständlich.
Der Übergang zur symbolisch-algebraischen Schreibweise war ein langsamer, mühevoller Prozess, in dessen Verlauf viele Mathematiker ihre eigenen Konventionen entwickelten. In Europa gab es sogar gemeinsame Bemühungen, sich der Einführung von Symbolen in der Mathematik aus prinzipiellen Gründen zu widersetzen. Eines der ersten Bücher über Algebra, das Gleichungen und Formeln enthielt, verfasste der englische Mathematiker John Wallis 1693. Ein anderer Engländer jedoch, der Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679), stand Wallis bereits schon in den 1650er Jahren äußerst kritisch gegenüber und sprach von der »Krätze der Symbole«. Wie heute nicht besonders betont werden muss, blieb Wallis Sieger.
Al-Khwarizmi starb ungefähr 850, aber zu diesem Zeitpunkt war seine Stellung als derjenige, der neben Arithmetik und Geometrie eine dritte Unterdisziplin der Mathematik geschaffen hatte, bereits gesichert. In der gesamten islamischen Welt ließen sich unzählige Mathematiker von seinem Text inspirieren und machten sich an die Weiterentwicklung des Fachgebiets; Männer wie al-Mahani, Thabit ibn Qurra (der auch Diophantus’ Arithmetica ins Arabische übersetzte) und Abu Kamil (der als »Ägyptischer Rechner« bekannt wurde) führten in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts al-Khwarizmis Arbeiten fort. Später, im 10./11. Jahrhundert, trieben al-Karkhi, Ibn Tahir und der große Ibn al-Haytham sie noch einen Schritt weiter: Sie beschäftigten sich mit kubischen und quartischen Gleichungen, und auf sie folgten im 11. Jahrhundert der persische Mathematiker und Dichter Omar Khayyam, im 13. der Astronom al-Tusi und der Mathematiker al-Farisi und im 15. al-Qalsadi. Sie alle leisteten großartige Beiträge, lange bevor die europäischen Mathematiker des 16. und 17. Jahrhunderts das Heft in die Hand nahmen.
Bevor ich das Thema der Algebra verlasse, möchte ich aus der Liste der gerade erwähnten glorreichen Mathematiker insbesondere einen herausgreifen. Das liegt unter anderem daran, dass ich später in diesem Buch auf ihn zurückkommen werde und dass er eine besondere Erwähnung verdient. Da er vor allem durch seine Dichtung berühmt wurde, ist man oftmals überrascht, wenn man erfährt, dass Omar Khayyam (1048–1131) einer der größten Mathematiker des Mittelalters war. Im Gegensatz zu anderen Gelehrten der Abassidenzeit schrieb er nicht auf Arabisch, sondern in seiner persischen
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