Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
damit, dass er sich für eine unpopuläre Glaubensrichtung einsetzen oder gar für den Mu’tazilismus im Allgemeinen sprechen wollte. Die mihna blieb auch während der Herrschaft der nachfolgenden beiden Kalifen, seines jüngeren Bruders al-Mu’tasim und seines Neffen al-Wathiq, in Kraft; erst von dem darauffolgenden Kalifen al-Mutawakkil wurde sie 849 aufgehoben.
Theologen waren keineswegs die Einzigen, die über solche Themen diskutierten. Der wichtigste Denker jener Zeit war ein Philosoph – der allererste im Islam –, und als solcher unterschied er sich grundlegend von den mu’tazilitischen kalam -Theologen. Sein Name war Ya’qūb ibn Ishaq al-Kindi (ca. 800–ca. 873) – im Westen Alkindus. Er war der erste große Universalgelehrte der Abassidenzeit und gleichzeitig der letzte Gelehrte aus al-Ma’muns »Ruhmeshalle«, den ich hier vorstellen möchte. Al-Kindi gehörte zum mächtigen Araberstamm der Kinda, der ursprünglich aus dem Jemen stammte, in Arabien aber sowohl vor als auch nach der Entstehung des Islam gewaltigen Einfluss hatte. Er war in Basra geboren, verbrachte aber vermutlich einen Teil seiner Kindheit in Kufa, wo sein Vater Gouverneur war. Nach heutiger Kenntnis zog er aber schon in jungen Jahren nach Bagdad und erhielt dort seine Ausbildung. [114] Nachdem er sich frühzeitig als vielversprechender Experte für griechische Philosophie erwiesen hatte, wurde er von al-Ma’mun berufen.
Zu jener Zeit war die Übersetzungsbewegung auf ihrem Höhepunkt angelangt und befand sich manchen Beschreibungen zufolge in einem regelrechten Wettlauf um alle griechischen wissenschaftlichen oder philosophischen Texte, deren die Gelehrten von Bagdad und ihre wohlhabenden Mäzene habhaft werden konnten. Im Mittelpunkt von alledem stand al-Kindi, ein Mann, der alles in seiner Umgebung in Frage stellte und seine unbestechliche Logik auf Fragen rund um Gott und die Schöpfung anwandte. Als gläubiger Muslim zeigte er Sympathien für die Ansichten der Mu’taziliten, eine Haltung, die ihm anfangs sicher half, am Hof des Kalifen sich Gunst zu erwerben. Aber al-Kindi war kein Speichellecker und entwickelte seine Ansichten aufgrund rein logischer und sogar mathematischer Überlegungen weiter. Mit diesem Standpunkt sollte er sich später im Leben eine Reihe von Feinden machen, und er bescherte ihm sogar innerhalb des Hauses der Weisheit selbst unmittelbare Konflikte mit Rivalen.
In seinen ersten Jahren sammelte al-Kindi um sich einen Kreis von Gelehrten und Übersetzern, denn er war selbst kein Übersetzer und konnte Griechisch nicht einmal lesen. Seine Stärke lag in der Assimilation, im Verständnis und in Kommentaren zu den übersetzten Werken der griechischen Philosophen, die ihm vorgelegt wurden. Schließlich kam der noch produktivere Hunayn ibn Ishaq nach Bagdad und baute einen eigenen Übersetzerkreis auf. Was aber in al-Kindis Kreis an dem reinen Umfang der Übersetzungen fehlte, machten seine Übersetzer durch Qualität und Auswahl der griechischen Texte, die sie zum Studium aussuchten, wett. Die Triebkraft waren dabei stets al-Kindis eigene philosophische Bestrebungen und Interessen. In seiner Philosophie flossen Ideen zusammen, die für jene Zeit recht kompliziert waren; sie gründeten sich auf die Interpretation von Offenbarungen durch vernünftige Argumente in Verbindung mit einer rationalistischen, aristotelischen Sicht auf die Welt um ihn herum, die unmittelbar auf seine religiösen Überzeugungen zurückwirkte. Deshalb wird ihm zu Recht das Verdienst zugeschrieben, unter allen Gelehrten am meisten dazu beigetragen zu haben, dass die griechische Philosophie in der islamischen Welt bekannt wurde.
Wenn wir diese neue Synthese aus Philosophie und islamischer Theologie verstehen wollen, müssen wir zunächst ein wenig mehr über Aristoteles wissen und die Philosophie kennenlernen, auf die al-Kindi sich mit seinen Gedanken stützte.
Den Einfluss, den Aristoteles (384–322 v.u.Z.) in der gesamten Geschichte und über die Kulturkreise hinweg auf die Menschheit hatte, kann man gar nicht hoch genug einschätzen; deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass gerade er al-Ma’mun im Traum begegnete. In der Philosophie hat er nicht seinesgleichen. Er war nicht nur der größte Philosoph aller Zeiten, sondern seine Gedanken wurden durch die Arbeiten al-Kindis auch zu dem Fundament, auf dem die frühe islamische Philosophie aufbaute, selbst wenn viele Ideen von Aristoteles später abgewandelt, erweitert oder
Weitere Kostenlose Bücher