Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
die weitverbreiteten theologischen Überzeugungen und Lehren der Mu’tazila zurückzuführen war, der Mu’taziliten, die einige Jahre vor der Machtübernahme der Abassiden aus Basra gekommen waren und denen mehrere Kalifen, unter ihnen auch al-Ma’mun, wohlwollend gegenüberstanden. In diesem Kapitel werde ich ihre Ideologie ein wenig genauer betrachten und der Frage nachgehen, wie sie aus den Interpretationen früherer christlicher Gelehrter erwuchs, die sich mit griechischer Philosophie und insbesondere mit den Werken von Aristoteles befasst hatten. Nach meinem Eindruck gehen viele Autoren über dieses Thema hinweg, ohne genau zu erklären, wofür die Mu’taziliten eigentlich eintraten; in der Regel wird nur kurz ihre rationale, nicht wörtliche Interpretation der islamischen Theologie erwähnt, und damit entsteht der Eindruck, als seien ihre Gegner in irgendeiner Form wissenschaftsfeindlich oder irrational gewesen. Diese übermäßige Vereinfachung trug zu der Vorstellung bei, der Niedergang des Goldenen Zeitalters sei mit der Rückkehr eines konservativen, gegen den Mu’tazilismus gerichteten Islam einhergegangen. Eine solche feindselige Reaktion gab es zwar mit Sicherheit, sie hatte aber kaum etwas damit zu tun, dass das helle Licht des wissenschaftlichen Fortschritts in der islamischen Welt einige Jahrhunderte später langsam verlosch.
Umgekehrt standen viele Muslime auf der ganzen Welt dem Mu’tazilismus und im weiteren Sinne auch der rationalistisch-wissenschaftlichen Weltanschauung mit einer gewissen Feindseligkeit gegenüber. Dies lag entweder an ihrer fundamentalistischen oder wörtlichen Interpretation des Korans, die dazu führte, dass sie jede säkulare Philosophie mit Misstrauen betrachteten, oder sie brachten die theologischen Ansichten der Mu’taziliten mit al-Ma’muns unbeliebter Inquisition ( mihna ) in Verbindung, mit der er versuchte, der allgemeinen Bevölkerung seine Glaubensdoktrinen aufzuzwingen.
Was dabei wichtig ist: Die Traditionalisten, die sich den mu’tazilitischen Rationalisten entgegenstellten, waren selbst in ihrer theologischen Argumentation keineswegs irrational . Alle theologischen Denkschulen jener Zeit gingen in irgendeiner Form von einer Synthese zwischen Philosophie und Theologie aus – zwischen Vernunft und Offenbarung. Die Mu’taziliten waren aber nicht nur eine Sekte unter vielen, sondern Anhänger einer religiösen Ideologie, die nach allgemeiner Ansicht im Einklang mit der offiziellen Weltanschauung des Kalifats stand. Deshalb war es für Gelehrte, die sich um die Schirmherrschaft des Kalifats bemühten, politisch opportun, sich dieser Bewegung anzupassen.
Es war der wichtigste ethische Grundsatz der Mu’taziliten, die Macht der Vernunft und des menschlichen Geistes zu preisen. In ihren Augen war es dieser Geist, der die Menschheit zur wahren Kenntnis Gottes, seiner Eigenschaften und damit auch der ethischen Grundlagen leitete. So betrachtet, waren sie Teil einer umfassenderen neuen islamisch-theologischen Bewegung, die von den ersten kalam -Diskussionskünstlern und ihren Argumentationsprinzipien ausging. Wie fast alle theologischen Strömungen, die sich seither im Islam entwickelt haben, waren sie natürlich vor allem von dem Wunsch getrieben, die Worte des Korans zu interpretieren. Von der eher konservativen Richtung unterschieden sie sich durch ihre Überzeugung, dass solche Kenntnisse nur durch das Streben nach Wissen zu erlangen sind, eine ehrenwerte Ideologie, die seit jener Zeit bei allen Wissenschaftlern auf der Welt ihren Widerhall gefunden hat. Das meine ich mit dem »Geist der rationalen Forschung«.
Genauer gesagt, griffen die Mu’taziliten bei Koranversen, in denen es um die Menschen ging, auf eine metaphorische Interpretation zurück, denn sie glaubten nicht in irgendeiner Form an einen Gott in Menschengestalt. Dies verschaffte ihnen unter anderem die Möglichkeit, bestimmte wörtliche Interpretationen mancher Koranabschnitte abzulehnen, die als »Gottes Worte« bezeichnet wurden. Gott, so argumentierten sie, »spricht« nicht wie ein Mensch. Seine Rede ist vielmehr etwas, das Er erschafft, und das gilt demnach auch für den Text des Korans. Dieser Glaube, dass der Koran nichts Ewiges ist, sondern von Gott erschaffen wurde, ist der bekannteste Streitpunkt zwischen Mu’taziliten und Literalisten. Die theologische Diskussion rund um dieses Thema war für viele Gelehrte jener Zeit äußerst wichtig, aber heute erscheint sie, was die tägliche
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