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Im Haus des Wurms

Im Haus des Wurms

Titel: Im Haus des Wurms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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mit unterschiedlich temperierten Stellen vorbei. Seine Schritte hallten laut durch den Raum.
    Nirgendwo waren Bronzefäuste oder Luftschächte zu ertasten.
    Er glaubte nun endlich, vor dem Fleischbeschaffer in Sicherheit zu sein, sank erschöpft zu Boden und schlief ein. Er wachte auf, als ihn etwas berührte.
    Annelyn schrie, griff nach dem Stilett und stach um sich. Er spürte, wie die Klinge auf einen Widerstand traf-Stoff? Fleisch? Er wußte es nicht. Er war aufgesprungen und stach blindlings hierhin und dorthin, drehte sich mit ausgestrecktem Stilett um die eigene Achse und suchte in der Tasche nach einem Streichholz. Er fand eins und zündete es an.
    Der Graun kreischte auf.
    Annelyn erhaschte einen Blick von dem Ungeheuer, bevor es in der Dunkelheit verschwand: ein geducktes Wesen mit weißer Haut und schlaffem, farblosem Haar, in graue Lumpen gekleidet. Auf den beiden hinteren und einem der mittleren Glieder stehend, hatte es die beiden Arme und ein Mittelglied nach Annelyn ausgestreckt. Ein Netz war an einem der sechs dünnen, langen Glieder zu sehen gewesen, und Annelyn ahnte, was das zu bedeuten hatte. Aber die Augen des Grauns waren das Schrecklichste überhaupt. Anstelle von Augäpfeln saßen zwei Gruben in seinem Gesicht, weiche, dunkle, feuchte Gruben, mit denen diese Wesen bei völliger Dunkelheit sehen konnten.
    Annelyn hatte dem Graun weniger als eine Sekunde gegenübergestanden. Er warf ihm das Streichholz hinterher und stach noch wild mit dem Stilett ins Leere, als der Graun schon längst verschwunden war. Annelyn hatte Angst, der Graun könne um ihn herumschleichen und im geeigneten Moment das Netz auswerfen. Er fühlte die feuchten Augenhöhlen des Ungeheuers auf sich gerichtet und tanzte tollpatschig umher, um einem möglichen Angriff auszuweichen. Er steckte ein zweites Streichholz an. Nichts. Dann blieb er bewegungslos stehen und hoffte, den Graun hören zu können. Wieder nichts. Annelyn entsann sich, daß Grauns große, weiche Füße hatten, die es ihnen ermöglichten, sehr leise aufzutreten.
    Der Junge rannte los.
    Er wußte nicht wohin. Aber auf keinen Fall durfte er stehenbleiben. Ohne Fackel oder Licht gegen einen Graun zu kämpfen, war aussichtslos. Vielleicht konnte er ihm davonlaufen. Immerhin hatte er das Ungeheuer mit dem ersten Messerstich verletzt.
    Er rannte durch die Dunkelheit, fuchtelte mit dem Stilett herum und betete zum Weißen Wurm, daß er nicht gegen eine Wand lief, in die Arme des Fleischbeschaffers oder die eines Grauns. Er rannte, bis er kaum noch Luft bekam. Und plötzlich hatte er den Boden unter den Füßen verloren.
    Er fiel, schrie. Die Dunkelheit zog ihn immer tiefer hinab. Der Schock war so groß, daß er nicht einmal Angst empfinden konnte.
    Er spürte gar nichts mehr.

    Zusammen mit Vermyllar stand er vor der großen eisernen Pforte zur Hohen Höhle des Menschwurms.
    Groff steckte in seiner bronzenen Rüstung und hielt Wache, ohne sich zu rühren. Auf der anderen Seite der Pforte stand nicht wie sonst ein zweiter Ritter, sondern der ausgestopfte Balg eines riesigen Grauns. Er maß die doppelte Länge eines gewöhnlichen Grauns, und seine beiden oberen Glieder waren zu einer bedrohlichen, kämpferischen Pose erstarrt.
    »Ein schreckliches Ding«, sagte Vermyllar und erschauderte.
    Annelyn lächelte ihn an. »Ach«, sagte er in heiterem Tonfall, »es läßt sich leicht in etwas Schönes verwandeln.«
    Vermyllar runzelte die Stirn. »Nein. Was redest du da, Annelyn ? Man kann doch einen Graun nicht schön machen. Mein Großvater war ein Sohn des Menschwurms. Ich weiß Bescheid. Unmöglich.«
    »Unsinn«, entgegnete Annelyn. »Es ist ganz einfach.
    Um einen Graun wunderschön zu machen, braucht man ihn bloß zu bedecken.«
    »Ihn bedecken?«
    »Ja. Mit Champignonsauce.«
    Vermyllar zog eine Grimasse und fing gegen seinen Willen zu kichern an. Aber plötzlich… plötzlich kam Leben in den großen Graun. Er jagte die beiden Jungen den Tunnel hinunter und fraß Vermyllar, während Annelyn schreiend fliehen konnte.

    Die Grauns hatten ihn eingekreist, wedelten mit den dünnen, teuflischen Armen in der Luft und rückten langsam auf den Jungen zu, obwohl er sich mit der Fackel gegen sie zur Wehr setzte. »Nein«, rief er, »nein.
    Ihr könnt nicht näher kommen. Nein. Ihr scheut das Licht.« Aber die Grauns, die augenlosen, blinden Grauns, kümmerten sich weder um seine Rufe noch um die Fackel. Gebückt, rhythmisch von einer Seite zur anderen schlenkernd und

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