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Im Haus des Wurms

Im Haus des Wurms

Titel: Im Haus des Wurms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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stehen. Warte, Shawn, warte ab und sieh zu, und ich werde dir weitere Zauberstücke von Morgan zeigen.« An der gegenüberliegenden Wand machte Morgan irgend etwas mit ihren Ringen an einer Schalttafel aus glänzendem Metall und viereckigen, matten Lichtern.
    Während sie zusah, wurde es Shawn mit einemmal angst und bange.
    Unter ihren Füßen begann der Boden zu erbeben, und ein Geräusch überfiel sie mit aller Macht, ein hohes, jammerndes Kreischen stach durch die Ledermaske in ihre Ohren, bis sie sich mit den behandschuhten Händen die Ohren zuhielt, um sich vor dem Lärm zu schützen.
    Trotzdem konnte sie den Lärm immer noch spüren, er ließ ihre Knochen vibrieren. Shawns Zähne schmerzten, und plötzlich verspürte sie einen rasenden Schmerz in der linken Schläfe – und das war noch nicht einmal das Schlimmste.
    Denn draußen, wo alles kalt und hell und still ausgesehen hatte, trieb sich ein dumpfes, blaues Licht herum, tanzte und befleckte die Welt. Die Schneewehen strahlten in blassem Blau, und die davon losgelösten Eisfahnen wirkten im Blau noch blasser. Und dunkelblaue Schatten stiegen dort vom Uferrand hoch und wieder nieder, wo vorher gar keine gewesen waren.
    Shawn sah, daß selbst der Fluß das blaue Licht widerspiegelte, und auch die Ruinen, die traurig und verfallen auf dem dahinter liegenden Hügel standen.
    Morgan kicherte hinter Shawn, und plötzlich löste sich im Fenster alles auf, bis man keine Konturen mehr erkennen konnte, nur Farben: helle und dunkle Farben, die ineinander verliefen, wie Teile eines Regenbogens, die in einem unermeßlich großen Kochtopf zerkocht wurden. Shawn rührte sich nicht von der Stelle, nur ihre Hand suchte und fand den Griff ihres Langmessers, und an ihren Sinnen zweifelnd, zitterte Shawn.
    »Sieh her, Carinkind!« rief Morgan und übertönte das schreckliche Wimmern. Trotzdem konnte Shawn sie kaum verstehen. »Wir sind jetzt in den Himmel gesprungen, fort von aller Kälte. Ich habe es dir vorausgesagt, Shawn. Wir werden jetzt zum Eiswagen fahren.« Wieder hantierte Morgan an der Wand, und das Geräusch verschwand. Auch die Farben waren verschwunden. Hinter dem Fenster lag der Himmel.
    Shawn schrie auf vor Furcht. Sie konnte nichts außer der Dunkelheit und den Sternen erkennen; überall Sterne, mehr als Shawn je zuvor gesehen hatte. Und sie wußte, daß sie verloren war. Lane hatte ihr alles über die Sterne beigebracht, damit Shawn sich an ihrem Stand orientieren, ihren Weg an ihnen ausrichten konnte. Aber diese Sterne hier waren falsch, sie waren so anders.
    Shawn konnte nirgends den Eiswagen ausmachen, den Geisterski, noch nicht einmal Lara Carin mit ihren Windwölfen. Sie konnte überhaupt keine vertraute Konstellation mehr ausmachen. Nur eine Unzahl Sterne, die Shawn aus Millionen Augen, roten, weißen, blauen, gelben Augen, boshaft anstarrten. Und kein einziger blinzelte auch nur.
    Morgan stand hinter ihr. »Sind wir im Eiswagen?«
    fragte Shawn schüchtern.
    »Ja.«
    Shawn zitterte. Sie warf heftig ihr Messer fort, so daß es laut von einer Metallwand abprallte. Dann drehte Shawn sich zu ihrer Gastgeberin um. »So sind wir tot.
    Und der Lenker führt unsere Seelen fort von den Eiswüsten«, sagte sie. Aber sie weinte nicht. Shawn hatte noch nicht sterben wollen, besonders nicht im Tiefwinter, aber jetzt würde sie Lane wiedersehen.
    Morgan band den Schal wieder auf, den sie Shawn um den Hals gebunden hatte. Die Perlen waren jetzt schwarz und sahen tot und zum Fürchten aus. »Nein, Shawn Carin«, sagte Morgan gelassen. »Wir sind nicht tot. Lebe hier mit mir, Kind, und du wirst niemals sterben. Hör auf meine Worte.« Sie zog den Schal herunter und machte sich daran, die Bänder von Shawns Gesichtsmaske zu lösen. Als sie damit fertig war, zog sie die Maske vom Kopf des Mädchens und ließ sie achtlos zu Boden fallen.
    »Du bist schön, Shawn. Aber du warst schon immer schön. Ich erinnere mich an die vergangenen Jahre. Ja, ich erinnere mich.«
    »Ich bin nicht schön«, sagte Shawn. »Ich bin zu weich und zu schwach. Creg sagt, ich sei zu mager, und mein Gesicht sei eingedrückt. Und ich bin nicht…«
    Morgan brachte sie mit ihren Lippen zum Schweigen.
    Dann löste sie die Öse am Hals. Lanes abgenutzter Umhang rutschte von Shawns Schultern. Ihm folgte ihr eigenes Cape und dann der Mantel. Morgans Finger wanderten weiter zu den Schnüren von Shawns Wams.
    »Nein«, sagte Shawn, die sich plötzlich schämte. Sie drückte sich mit dem Rücken gegen das

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