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Im Haus des Wurms

Im Haus des Wurms

Titel: Im Haus des Wurms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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zugewandt und konnte daher das Gesicht der älteren Frau nicht erkennen. »Die so kleinen blauen Pflänzchen heißen Bitterblumen. Sie blühen selbst in der bittersten Kälte, deshalb nannten sie sie so. Ursprünglich stammen sie von einer Welt namens Ymir, die furchtbar weit entfernt ist. Dort haben sie einen Winter, der fast so lang und so kalt wie der unsrige ist. Die anderen Blumen kommen auch von Ymir, diejenigen, die rund um das Schiff in den Ritzen wachsen. Man nennt sie Frostblumen. Der Tiefwinter wirkte immer so öde und leer, daher habe ich sie angepflanzt, damit alles etwas hübscher aussieht.« Sie nahm Shawn an der Schulter und drehte sie herum. »Jetzt siehst du so aus wie ich«, sagte sie. »Geh und hol deinen Spiegel, damit du es selbst sehen kannst, #Carin-kind.«
    »Er liegt dort drüben«, antwortete Shawn und ging um Morgan herum, um ihn zu holen. Ihr nackter Fuß trat in etwas Kaltes und Nasses. Sie fuhr erschreckt zurück, und das machte ein glitschendes Geräusch. Auf dem Fell hatte sich eine Pfütze gebildet.
    Shawn runzelte die Stirn. Bewegungslos blieb sie stehen und blickte Morgan an. Die ältere Frau hatte ihre Stiefel noch nicht ausgezogen – sie tropften.
    Und hinter Morgan zeigte das Fenster nur Schwärze und die fremden Sterne. Shawn bekam Angst; irgend etwas stimmte hier nicht. Morgan starrte sie besorgt an.
    Shawn leckte sich über die Lippen, lächelte dann schüchtern und ging zum Spiegel.

    Morgan zauberte die Sterne vor dem Schlafengehen weg; draußen herrschte die Nacht; doch es war eine freundliche Nacht und nicht die frostige Totenstarre des Tiefwinters. Belaubte Bäume wogten im Umkreis vom Schiff im Wind, und über allem stand ein Mond, der alles heller und freundlicher machte. Eine gute, sichere Welt, auf der man schlafen kann, sagte Morgan.
    Shawn konnte nicht einschlafen. Sie saß Morgan gegenüber und starrte den Mond an. Zum ersten Mal, seit sie nach Morganhall gekommen war, dachte sie wie eine Carin. Lane wäre stolz auf sie gewesen; Creg würde sie nur gefragt haben, warum sie so lange gebraucht hatte.
    Morgan war mit einem Strauß Bitterblumen zurückgekehrt, und Stiefeln, die vor Schnee troffen. Aber draußen war das Nichts gewesen, nur die Leere, wie Morgan zu sagen pflegte, die den Raum zwischen den Sternen füllt.
    Morgan hatte gesagt, das Licht, das Shawn im Wald gesehen hatte, wäre von den Feuern gekommen, die ihr Schiff bei der Landung ausgestoßen habe. Aber die dicken Frostblumenreben, die an den Schiffsbeinen entlang und um sie herum wuchsen, mußten schon seit Jahren dort wachsen.
    Morgan wollte sie nicht hinauslassen. Morgan hatte Shawn alles durch das große Fenster gezeigt. Aber Shawn konnte sich nicht daran erinnern, ein Fenster gesehen zu haben, als sie draußen vor Morganhall gestanden hatte. Falls das Fenster wirklich ein Fenster war, wo waren dann die Blumen, die auch diese Fläche bedeckt haben mußten, und wo das Eis und der Schnee des Tiefwinters, die auf ihm lasteten?
    Und der Name dieses Metallhauses war Morganhall, hatte Tesenya den Kindern erklärt, und die Familie, die dort lebte, war die Lügner-Familie, deren Speisen hohl und aus Träumen und Luft gemacht sind.

    Shawn stand im Licht des Mondes auf und begab sich an den Platz, wo sie Morgans Geschenke verwahrte. Stück für Stück betrachtete das Mädchen sie, dann hob sie das schwerste Stück hoch, den gläsernen Windwolf. Es war eine große Skulptur, so schwer, daß Shawn beide Hände zum Heben brauchte: die eine griff an die bissige Schnauze, die andere um den Schwanz des Tieres.

    »Morgan!« rief sie.
    Schlaftrunken richtete Morgan sich auf und lächelte.
    »Shawn«, murmelte sie, »Shawn, mein Kind. Was willst du denn mit dem Windwolf?«
    Das Mädchen trat näher und hob das Glastier hoch über ihren Kopf. »Du hast mich belogen. Wir sind niemals irgendwohin gefahren. Wir befinden uns immer noch in der Ruinenstadt, und es herrscht immer noch der Tiefwinter.«
    Morgans Gesicht wurde düster. »Du weißt nicht, was du da sagst.« Zitternd kam sie auf die Füße. »Willst du mich mit diesem Ding da erschlagen, Kind? Davor habe ich keine Angst. Schon einmal hast du mich mit einem Schwert bedroht, und da hatte ich auch keine Angst vor dir. Ich bin Morgan, die Zauberin. Du kannst mir nichts anhaben, Shawn.«
    »Ich will hier raus«, sagte Shawn. »Bring mir meine Waffen und meine Kleider, meine alten Kleider. Ich kehre nach Carinhall zurück. Ich bin eine Carin-Frau und kein Kind mehr.

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