Im Haus des Wurms
Schwächsten und Unnützesten nach draußen zum Sterben geschickt. Jon gehörte zu den Fehlenden, auch Leila war verschwunden; Leila, die so jung und stark gewesen war. Ein Vampir hatte sie vor drei Monaten überfallen. Aber die Trauer war nicht überall vorherrschend: Der Tiefwinter ging zu Ende. Und, in persönlicherer Hinsicht stellte Shawn fest, daß ihre Stellung innerhalb der Familie sich geändert hatte. Selbst Creg brachte eine Art groben Respekts für sie auf. Ein Jahr später, als das Tauwetter mit aller Macht einzog, gebar Shawn ihr erstes Kind, und es wurde als gleichberechtigt von der Carinhall-Versammlung bestätigt. Shawn nannte ihre Tochter Lane.
Shawn fügte sich gut in das Leben der Familie ein. Als die Zeit für sie kam, sich einen dauerhaften Beruf auszusuchen, wollte Shawn Händler werden. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, daß Creg sich nicht gegen ihren Wunsch aussprach, Rys übernahm Shawns Ausbildung, und nach drei Jahren bekam das Mädchen ein eigenes Aufgabengebiet zugeteilt. Ihre Arbeit führte sie oft und lange auf die Überlandstraßen. Als sie jedoch nach Carinhall zurückkehrte, war sie zu ihrer großen Überraschung zur beliebtesten Geschichtenerzählerin aufgestiegen. Die Kinder behaupteten, Shawn könnte die besten Geschichten von allen erzählen. Der ewig praktische Creg meinte, ihre phantastischen Märchen gäben den Kindern ein schlechtes Beispiel ab und seien für sie ohne Lerneffekt. Aber zu dieser Zeit war Creg schon sehr krank, er war dem Hochsommerfieber zum Opfer gefallen, und seine Beschwerde wurde nicht mehr allzu ernst genommen. Wenig später starb er, und Devin wurde die Stimme von Carin, ein sanftmütigerer und gemäßigterer Führer, als Creg das gewesen war. Die Carin-Familie erlebte eine Ära des Friedens unter seiner Leitung, und ihre Anzahl wuchs von vierzig auf fast einhundert Personen.
Shawn war wiederholt seine Bettgefährtin. Ihre Lesekünste hatten nach langem Studium beachtliche Fortschritte erzielt. Devin rief sie eines Tages aus einer Laune heraus zu sich und zeigte ihr die Geheimbibliothek der Stimmen von Carin, wo jeder Leiter seit ungezählten Jahrhunderten eine Art Protokoll führte, indem er alle Vorkommnisse unter seiner Führung aufschrieb. Wie Shawn es erwartet hatte, hieß einer der dickeren Bände Das Buch von Beth, Stimme von Carin. Es war etwa sechzig Jahre alt.
Lane war das erste der neun Kinder von Shawn. Und Shawn hatte Glück: Sechs von den neun überlebten. Zwei wurden von Familienangehörigen gezeugt, und vier brachte sie auf Grund der Großen Versammlungen in die Familie ein. Devin lobte sie dafür, daß sie so viel frisches Blut nach Carinhall gebracht hatte. Eine spätere Stimme lobte sie für ihren außergewöhnlichen Erfolg als Händlerin. Sie kam viel herum, traf mit vielen Familien zusammen, sah Wasserfälle und Vulkane, aber auch Seen und Berge. Auf einem Carin-Schoner segelte sie um die halbe Welt. Sie hatte viele Liebhaber und genoß hohes Ansehen. Jannis folgte Devin als Stimme von Carin, aber ihr wollte nichts richtig gelingen, sie war vom Unglück begleitet. Nachdem Jannis gestorben war, boten die Mütter und Väter der Familie Carin Shawn die Stellung an. Aber sie lehnte ab. Diese Position hätte sie nicht mit Befriedigung erfüllt. Trotz allem, was sie in ihrem Leben erlebt hatte, fühlte sie sich nicht sehr glücklich.
Sie hatte zu viele Erinnerungen im Kopf, und manchmal konnte sie nachts nicht einschlafen.
Während des vierten Tiefwinters ihres Lebens war die Familie Carin auf zweihundertsiebenunddreißig Personen angewachsen, ein ganzes Hundert davon Kinder. Aber das Wild wurde knapp, selbst für das dritte Jahr des Frostes war es knapp. Shawn sah schon deutlich die harte, kalte Zeit voraus, die im Anrücken war. Die Stimme war eine gütige Frau, der es schwerfiel, die Entscheidungen zu treffen, die getroffen werden mußten.
Aber Shawn erkannte trotzdem das Unvermeidliche. Sie war die Zweitälteste in Carinhall. Eines Nachts stahl sie Nahrungsmittel – gerade genug, um zwei Wochen damit reisen zu können – und ein Paar Skier. Sie verließ Carinhall im Morgengrauen und ersparte der Stimme so, den unausweichlichen Befehl zu geben.
Shawn kam nicht so schnell voran wie damals in ihrer Jugend. Die Reise dauerte eher drei Wochen als zwei, und Shawn war dürr und schwach, als sie endlich die Ruinenstadt erreichte.
Aber das Schiff stand noch immer genauso da, wie sie es verlassen hatte.
Extreme
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