Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Haus des Wurms

Im Haus des Wurms

Titel: Im Haus des Wurms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
Vom Netzwerk:
sie, falls sie noch mehr davon äße, verhungern müßte. Morgan lachte sie aus, verschwand leichtfüßig und kehrte mit getrockneten Vampirfleischstreifen zurück. Sie erklärte Shawn, sie solle diese in ihren Sack stecken und davon nehmen, sobald sie sich hungrig fühlte.
    Shawn bewahrte die Streifen lange Zeit auf, aber essen tat sie nie davon.
    Zuerst versuchte sie die Tage anhand der Mahlzeiten, die sie aßen, zu zählen, und wie oft sie schlafen gingen.
    Aber bald verwirrten sie die ständig wechselnden Szenen außerhalb des Fensters und der zufällige Ablauf der Natur in Morganhall so sehr, daß sie alle Hoffnung fahrenließ, das jemals zu verstehen. Etliche Wochen lang machte sie sich Gedanken darüber – vielleicht waren es auch nur Tage –, dann dachte sie nicht mehr daran.
    Morgan konnte mit der Zeit machen, was ihr gerade gefiel, also hatte es für Shawn keinen Wert, sich darum zu kümmern.
    Öfters bat Shawn darum, gehen zu dürfen, aber Morgan ging gar nicht darauf ein. Sie lachte nur und machte irgendeinen Zauber, der Shawn alles vergessen ließ.
    Morgan nahm ihr eines Nachts, als sie schlief, die Waffen weg und die Felle und das Lederzeug auch.
    Danach war Shawn gezwungen, sich so zu kleiden, wie Morgan es wollte: in Wolken aus farbiger Seide und in phantastische Fetzen, oder sie mußte nackt umherlaufen.
    Shawn war zunächst wütend und aufgebracht, aber später gewöhnte sie sich daran. Ihre alte Kleidung war ohnehin für Morganhall viel zu warm.
    Morgan machte ihr Geschenke: Säckchen mit Gewürzen, die nach Sommer dufteten; einen Windwolf aus mattem, blauem Glas hergestellt; eine metallene Maske, mit der Shawn im Dunkeln sehen konnte; wohlriechende Badeöle; einige Flaschen mit einem dickflüssigen, goldenen Inhalt, der Shawn das Vergessen brachte, wenn sie gerade Trübsal empfand; einen Spiegel, den wunderbarsten Spiegel, der je hergestellt worden war; Bücher, die Shawn aber nicht lesen konnte; ein Armband, mit kleinen, roten Steinen besetzt, die tagsüber Licht tranken und in der Nacht glühten; Würfel, die eine exotische Musik spielten, wenn Shawn sie mit den Händen wärmte; Stiefel, aus elastischem Metall zusammengesetzt, die so leicht und flexibel waren, daß Shawn sie in einer Hand zusammendrücken konnte; und metallene Miniaturfiguren von Männern, Frauen und allen Arten von Monstern.
    Morgan erzählte ihr Geschichten. Zu jedem Geschenk, das sie Shawn gab, gehörte die Geschichte seiner Herkunft, wer es gemacht hatte und wie es in Morgans Hände gelangt war. Morgan erzählte jede Geschichte.
    Und es waren auch Geschichten von ihren Verwandten darunter: der unzähmbare Kleronomas, der über den Himmel fuhr und nach Wissen jagte, Celia Marcyan, die ewig Neugierige mit ihrem Schiff Schattenjäger, Erika Stormjones, deren Familie ihren Leib zerlegt hatte, damit sie von neuem leben könne, der wilde Stephen Kobalt Nordstern, der melancholische Tomo, die strahlende Deirdre d’Allerane und ihre finstere, geisterhafte Zwillingsschwester. Alle diese Geschichten begleitete Morgan mit Magie. In einer Wand gab es eine bestimmte Stelle mit einem kleinen, viereckigen Schlitz, wo Morgan einen flachen Metallkasten anschloß. Dann gingen alle Lichter aus, und Morgans tote Verwandte erwachten wieder zum Leben, helle Phantome, die liefen, sprachen und Blut verloren, wenn sie sich verletzten. Shawn hielt sie für real bis zu dem Tag, an dem Deirdre zum ersten Mal über ihre erschlagenen Kinder weinte. Shawn raunte ihr zu, um ihr Trost zu spenden, und mußte feststellen, daß sie Deirdre nicht berühren konnte. Aber erst danach erklärte Morgan ihr, daß Deirdre und die anderen bloße Geisterwesen seien, die sie mittels ihrer Zauberkraft herbeigerufen habe.
    Morgan erklärte Shawn viele Dinge. Morgan war sowohl ihre Lehrerin als auch ihre Liebhaberin. Und Morgan brachte für Shawn fast so viel Geduld auf, wie Lane das getan hatte. Aber Morgan war viel eher dazu geneigt, abzuschweifen oder das Interesse an etwas zu verlieren. Sie gab Shawn eine wunderbare zwölf-saitige Gitarre und begann ihr das Gitarrespielen beizubringen.
    Sie lehrte Shawn das Lesen, wenigstens ein bißchen. Und sie weihte Shawn in ein paar simplere Zaubertricks ein, damit das Mädchen sich ohne Schwierigkeiten im ganzen Schiff umherbewegen konnte. Und auch das lehrte Morgan Shawn: Morganhall war kein Gebilde, sondern ein Schiff, ein Himmelsschiff, das seine Metallbeine bewegen und von Stern zu Stern springen konnte.
    Morgan erzählte

Weitere Kostenlose Bücher