Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
verschwunden.
Dr. Timm trat in die Kabine, beugte sich über Noah und sagte langsam und recht laut: »Kannst du reden? Verstehst du mich?«
»Sie müssen nicht so schreien«, gab Noah zurück. »Ich verstehe Sie sehr gut.«
»Oh.« Dr. Timm sprach wieder leiser. »Das ist gut. Sehr gut. Wie fühlst … Wie fühlen Sie sich?« Offenbar hatte er Schwierigkeiten, Noahs äußeres Erscheinungsbild mit seiner Sprache zu vereinbaren. Immerhin siezte er ihn jetzt.
»Nicht so gut.« Was reichlich untertrieben war. Noah fühlte sich furchtbar. Aber das hatte nichts mit den Nachwirkungen des Schlangengifts zu tun.
»Na, das wird schon wieder. Wäre Fräulein Maritz nicht gewesen, dann wären Sie jetzt tot. Sie können wirklich stolz auf Ihre Schwester sein.«
Seine Schwester ? Hatte er das richtig verstanden – Isabel hatte behauptet, sie sei seine Schwester? Und er hatte sich schon gewundert, dass man sie beide hier so selbstverständlich alleine gelassen hatte.
Mit keiner Faser verriet er seine Überraschung. »Das bin ich auch. Sehr.«
Dr. Timm untersuchte ihn kurz. »Der Muskeltonus ist noch etwas schwach«, konstatierte er dann und begann, in seiner Arzttasche zu kramen. »Ich gebe Ihnen etwas Stärkendes.«
Noah brach der Schweiß aus, als er sah, was Dr. Timm tat.
»Muss das sein?«, fragte er beunruhigt. Der Anblick der langen, spitzen Nadel, die Dr. Timm auf den schmalen Glaskolben schraubte, verursachte ihm Übelkeit.
»Es bringt Sie schneller wieder auf die Beine.« Dr. Timm hatte die Spritze aufgezogen und griff nach seinem Arm. Noah musste sich zusammenreißen, um nicht zurückzuschrecken.
»Nicht bewegen!«, sagte Dr. Timm, dann stach er die Nadel in Noahs Arm.
*
Eine halbe Stunde später saß Isabel frisch gekämmt und gewaschen mit den Herren Lauterbach, Pahnke und Timm an einem kleinen Tisch an Deck beim Frühstück. Vom Heck erklang das leise Rauschen des Schaufelrads, das die Herzogin Elisabeth langsam vorantrieb. Sie brachte kaum einen Bissen herunter. Ständig kreisten ihre Gedanken um diese eine Sache. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Hatte sie wirklich geglaubt, Noah hätte Interesse an ihr? An ihr, dem unscheinbaren Fräulein Maritz mit dem lahmen Bein? Er hatte es ja nicht einmal für nötig befunden, ihr von seiner Affäre zu erzählen, und dabei hatte er genug Gelegenheit gehabt, während sie tagelang unterwegs gewesen waren. Wieso rückte er erst jetzt, da es brenzlig für ihn wurde, damit heraus?
Und wieso ausgerechnet Henriette, die gut und gerne seine Mutter sein könnte?
Weil Bertholds Schwester immer noch eine wunderschöne und begehrenswerte Frau war, gab sie sich unerbittlich selbst die Antwort. Weil sie, Isabel, niemals mit einer solchen Dame von Welt mithalten konnte. Weil Noah so viel weiblicher Schönheit und Grazie natürlich nicht abgeneigt war.
Dabei ging Henriette mit dieser Affäre ein beträchtliches Risiko ein. Sie war schließlich eine verheiratete Frau, auch wenn ihr Ehemann irgendwo fernab weilte. Aber wer sollte ihnen schon auf die Schliche kommen, wenn sie vorsichtig waren? Isabel hatte es ja auch nicht für möglich gehalten.
Jetzt erinnerte sie sich wieder an die geflüsterte Unterhaltung, die sie kurz nach ihrer Ankunft in Finschhafen vor ihrem Fenster mitbekommen hatte. Eine der Stimmen hatte sie als Henriettes erkannt, die andere hatte sie nicht verstehen können. Vermutlich war das Noah gewesen.
Vergeblich versuchte sie, die Vorstellung aus dem Kopf zu bekommen, wie die beiden …
»Fräulein Maritz, sind Sie noch bei uns?«
Sie schreckte auf. »Wie bitte?«
Herr Lauterbach sah sie an. »Ich sagte gerade, ich freue mich, dass es dem jungen Mann wieder bessergeht. Aber ich habe doch starke Zweifel daran, dass er wirklich Ihr Bruder ist.«
Isabel senkte den Kopf, Hitze stieg ihr ins Gesicht, ihr Herz schlug laut.
»Nein, das ist er nicht«, bekannte sie. Unter Lauterbachs forschendem Blick kam sie sich vor wie eine Verbrecherin. »Es … es tut mir ausgesprochen leid, meine Herren, Sie angelogen zu haben.«
Lauterbachs Gesicht blieb unbewegt, nur ein Muskel in seiner Wange zuckte.
»Er ist nicht Ihr Bruder?« Dr. Timm wirkte ehrlich bestürzt. »Nicht einmal Ihr Halbbruder?«
»Nein«, murmelte Isabel. »Ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen. Ich … ich hatte befürchtet, wenn ich die Wahrheit sage, würden Sie ihn nicht befreien.«
»Und was ist die Wahrheit, Fräulein Maritz?«, fragte Kapitän Pahnke, dessen Kinn ein
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