Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
betrachtet, den ihr Dr. Timm geliehen hatte. Im ersten Moment war sie erschrocken darüber gewesen, wie sie aussah: Nicht mehr viel erinnerte nun noch an die blasse junge Dame, die vor einigen Wochen in dieses Land gekommen war. Jetzt war ihr Gesicht, ähnlich wie ihre Arme und Beine, zart gebräunt. Sie kam sich fast vor wie eine Bäuerin. Doch je länger sie sich betrachtete, desto besser gefiel sie sich. Sie sah viel gesünder aus als früher. Nur ihre traurigen Augen passten nicht dazu.
Feuchtigkeit lag in der dampfenden Luft und vermischte sich mit dem Geruch verbrannter Holzkohle. Unter ihr schwappte das braun-trübe Wasser des Ottilienflusses. Aus dem Dampfrohr hinter ihr drang dicker schwarzer Rauch und wehte über die schwarz-weiß-rote Reichsflagge am Heck. Das Stampfen der Kolben und das Zischen des Dampfkessels bildete zusammen mit dem beständigen Rauschen der hölzernen Schaufelräder eine monotone Geräuschkulisse.
Hier und da kamen ihnen Kanus mit Einheimischen entgegen. Einmal hatte ein kleines Grüppchen den Dampfer mit Pfeilen beschossen, aber nachdem Herr Lauterbach ein paar Warnschüsse abgegeben hatte, hatten sich die kriegerischen Wilden schnell wieder verzogen.
Wie fast alle anderen auch verbrachte Isabel die meisten Stunden des Tages an Deck. Sich länger als unbedingt nötig in der engen Kabine des Kapitäns, die dieser nun doch für sie geräumt hatte, aufhalten zu müssen war ihr ein Graus. Sie sah den einheimischen Schiffsleuten und Trägern zu, wie sie Fische angelten oder Kohlen nach unten trugen, und den Forschern, wie sie Wasserstand und Lufttemperatur maßen oder die gepressten Pflanzenproben sortierten und beschrifteten. Sie hatte angeboten, den Herren bei den Messungen und Aufzeichnungen zur Hand zu gehen, aber bis auf Dr. Timm hatten alle dankend abgelehnt. Sie wussten offenbar nicht, wie sie sich ihr gegenüber verhalten sollten. Nicht nur, dass sie die einzige Frau an Bord war, sie hatte der Forschergruppe auch noch einen mutmaßlichen Verbrecher mitgebracht.
Kapitän Pahnke hatte ernst gemacht. Seit ihrem Gespräch mit den drei Herren hatte sie Noah nicht mehr gesehen. Vor seiner Tür wechselten sich bewaffnete Träger ab, und das kleine Lukenfenster hatte man mit Brettern vernagelt.
Wie sich Noah jetzt wohl fühlte, eingesperrt in der Krankenkabine? Nur ganz selten, wenn er mit jemandem sprach, hörte sie seine Stimme. Hatte er sich mit seiner Lage abgefunden? Oder war er noch immer so geschwächt, dass er zu irgendeiner Form von Widerstand einfach noch nicht imstande war?
Einmal hatte sie sich ein Herz gefasst und Dr. Timm nach seinem Befinden gefragt.
»Wir haben dafür gesorgt, dass er sich ruhig verhält«, hatte er nur gesagt. Was immer das auch bedeuten mochte. Möglicherweise hatten sie ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Oder ihn gefesselt. Oder beides.
Er war so nah und doch so fern.
Nein! Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht schon wieder an Noah denken. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihre Gedanken beharrlich zu ihm zurückkehrten. Ihre Finger sehnten sich danach, über seine Haut zu streichen, in seine gedrehten Haarsträhnen zu greifen, noch einmal die vernarbte Stelle auf seiner Kopfhaut zu spüren. Begehren ballte sich in ihrem Unterleib, als sie sich daran erinnerte, wie er in sie eingedrungen war. Den kurzen Schmerz hatte sie schon fast vergessen – sie erinnerte sich nur noch an das köstliche Gefühl danach.
Henriette war sicher schon öfter in diesen Genuss gekommen. Verstohlen wischte Isabel sich über das Gesicht. Es war bestimmt nur der Rauch, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Nicht der Gedanke an Henriette und Noah. Oder die Mordanklage. Oder die ganze vertrackte Situation insgesamt.
Der klobige, kleine Dampfer machte gute Fahrt. Vermutlich schon morgen würden sie das Meer erreichen. Dann noch ein paar Tage die Küste entlang nach Süden, und sie wären in Finschhafen. Wie oft hatte sie sich genau das am Anfang ihrer Entführung gewünscht. Aber jetzt fühlte es sich falsch an. Im Moment wollte sie nichts mehr, als sich irgendwo ganz allein zu verkriechen und ihre Wunden zu lecken. Doch das konnte sie sich nicht erlauben. Stattdessen würde sie ihre verletzten Gefühle beiseiteschieben und mit Henriette reden müssen, um sie zu bitten, Noah zu entlasten, denn natürlich konnte sie es nicht verantworten, ihn falsch verurteilt zu wissen.
Ein leichter Kopfschmerz hatte sich in ihren Schläfen festgesetzt, und jetzt ging
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