Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
wirbelte auf. Alle hatten sich um einen Platz am Fuß des Turms versammelt, wo die Erde aufgelockert worden war, um eine halbwegs weiche Landefläche zu bilden.
Der Häuptling glich ein kurzes Schwanken aus, indem er sich an einer anderen Plattform nahe seinem Kopf festhielt, dann klatschte er in die Hände. Der Gesang verstummte, die Tänzer standen still. In kurzen, heiseren Sätzen, die Noah recht gut verstehen konnte, richtete Korua-Kolta sich an seinen Stamm, erzählte von seinen Heldentaten und seinem Mut und davon, wie viele Feinde er schon besiegt hatte.
Die üblichen Reden. Noah wünschte sich, der Häuptling würde zu einem Ende kommen, damit auch er es endlich hinter sich bringen konnte. In der zurückliegenden halben Stunde hatte man ihn im Männerhaus auf den Wettkampf vorbereitet. Man hatte ihm erläutert, was man von ihm erwartete, ihm ein kurzes Hüfttuch aus geflochtenen weichen Rindenstreifen gegeben und seinen Körper mit Kokosnussöl eingerieben. Genau wie Korua-Kolta. Vermutlich wollte der Häuptling durch diesen Wettkampf sicherstellen, dass er sein Gesicht nicht verlor, nachdem Noahs »Feuerzauber« seinem Ansehen geschadet hatte. Einer der Männer hatte es Noah erklärt: Seit vielen Jahren maßen sich die Krieger der Donowai in diesem Ritual, um ihren Mut zu beweisen. Die größte Ehre gebührte dem Springer, der vom höchsten Punkt absprang – und der bei der Landung den Boden leicht berührte. Wer sich allerdings verschätzte, wenn die Lianen zu lang waren oder rissen, konnte sich schwer verletzen oder gar sterben.
Korua-Kolta hatte seine Ansprache beendet. Jetzt hob er die Arme, ließ sie langsam sinken, legte sie an den Körper, lehnte sich nach vorne und sprang.
Ein vielstimmiger Schrei ertönte, als er kopfüber dem Boden entgegenraste. Kurz bevor er die aufgewühlte Erde des Aufschlagplatzes berührte, strafften sich die Lianen. Ein Ruck ging durch den fallenden Körper, eine der Ranken riss. Korua-Kolta schwang ein kurzes Stück zurück, stürzte dann unsanft und seitlich verdreht auf den Grund und rührte sich nicht.
Sofort rannten einige Donowai los, um ihm zu Hilfe zu eilen. Einer schnitt die verbliebene Liane um seinen Fuß los, ein anderer packte ihn an den buschigen Haaren, riss seinen Kopf nach hinten und schüttelte ihn mehrfach. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sich der Häuptling bewegte und auf den Rücken rollte. Offenbar hatte ihn der Aufprall kurzfristig benommen gemacht, und diese grobe Prozedur war dazu da, ihn wieder zu sich zu bringen.
Die Männer halfen ihm auf die Beine. Korua-Kolta hob die Hände in einer triumphierenden Geste, drehte sich nach allen Seiten und ließ sich bejubeln. Dennoch sah er merkwürdig steif dabei aus – wahrscheinlich hatte er sich bei dem Sturz verletzt. Als er sich vom Platz entfernte, erkannte Noah, dass er leicht humpelte und sich dabei auf einen seiner Gefolgsleute stützte.
Dann war die Reihe an ihm.
Er warf einen kurzen Blick zu Isabel, die ein wenig abseits stand, bewacht von einem Krieger, und sah die Angst in ihren Augen. Verständlich: Falls er versagte, würde sie ein grauenvolles Schicksal an der Seite des Häuptlings erwarten. Begleitet von zwei Donowai, die lange, aufgewickelte Lianen bei sich trugen, begann er mit dem Aufstieg.
In der Mitte des Turms erhob sich eine hohe Palme, die man als Stützpfeiler verwendet hatte, der Turm selbst war mit dicken Seilen an den umliegenden Bäumen festgemacht. Viele hundert Meter von Lianen mussten hier verbaut worden sein und eine enorme Menge an Balken und Ästen. Vorsichtig, aber rasch kletterte er durch das Labyrinth von Pfählen, Quer-und Tragbalken, stieg immer höher hinauf, dem Himmel entgegen. Er hielt erst an, als die beiden Donowai das Brett erreicht hatten, von dem Korua-Kolta gesprungen war. Jetzt banden sie die mitgebrachten Ranken an der Plattform fest und forderten ihn auf, zu ihnen zu treten.
Er zögerte. Wenn er seine und Isabels Haut retten wollte, musste er besser sein als der Häuptling. Außerdem traute er den Donowai nicht – es war durchaus denkbar, dass die neuen Lianen schadhaft oder zu lang waren, und ihm fehlte die Erfahrung der Donowai, um es richtig einschätzen zu können.
Es gab es nur eine Möglichkeit: Er musste noch höher hinauf. Ein paar erstaunte Ausrufe erklangen, als er das Sprungbrett links liegenließ und weiter nach oben stieg.
Ein leichter Wind wehte, als er vorsichtig auf die oberste Plattform trat. Der Erdboden unter ihm war
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