Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
ihrer Jagdbeute zurückkehrten – Noah mitten unter ihnen.
Jetzt saß er mit einigen Männern zusammen, die ihre sternförmigen Keulen ausbesserten oder an ihren Bogen herumbastelten. Er sah flüchtig zu Isabel hinüber, aber er machte keine Anstalten, zu ihr zu gehen. Seit gestern Abend hatten sie nicht mehr miteinander reden können. Die Nacht hatte Isabel mit den anderen Frauen im Frauenhaus verbracht, und danach hatte sie ebenfalls keine Gelegenheit mehr gehabt, mit ihm zu sprechen.
Seit Noah sie aus Simbang entführt hatte, waren sie bis auf kurze Unterbrechungen ständig zusammen gewesen. Jetzt fühlte sie sich eigenartig verloren.
Und irgendwie anders. Gereifter.
Das Erlebnis vom gestrigen Abend erschien Isabel heute, im hellen Licht des Tages, wie ein skurriler Traum. War es wirklich geschehen? Hatten sie sich tatsächlich vor all diesen Menschen … geliebt? Nie hätte sie so etwas für möglich gehalten. Und auch nicht, dass sie es nicht nur passiv erduldet, sondern sogar kurzfristig die Initiative ergriffen hatte.
Trotz der außergewöhnlichen Umstände war Noah behutsam mit ihr umgegangen. Am Ende hatte er sich geradezu hastig aus ihr zurückgezogen und sie mit einem plötzlichen Gefühl der Leere zurückgelassen.
War er wirklich … in ihr gewesen? Bei dem Gedanken daran spürte sie erneut Scham und Verwirrung in sich aufsteigen. Und dasselbe lockende Ziehen in ihrem Unterleib, das sie nun schon so gut kannte.
Schnell verscheuchte sie diesen Gedanken wieder. Sie sollte lieber darüber nachdenken, wie sie von hier entkommen konnten, nichts anderes war wichtig! Mit glühendem Gesicht wandte sie sich der Erdgrube zu, aus der allmählich ein verheißungsvoll duftender Rauch aufstieg.
*
War sie eine Gefangene? Vermutlich, auch wenn man ihr keine Fesseln angelegt hatte. Man sperrte sie nicht ein, und sie konnte sich frei im Dorf bewegen. Aber sie war niemals allein. Ständig war jemand bei ihr, ob sie sich nun am Bastflechten versuchte, den Kasuar füttern ging oder die Frauen zu ihrer täglichen Arbeit zu den Beeten begleitete. Nachts schlief sie bei ihnen im Frauenhaus. Und selbst wenn sie hätte fliehen können – sie wusste ja nicht einmal, wohin. Alleine konnte sie hier nicht weg, das war ihr klar. Sie musste gemeinsam mit Noah entkommen.
Wenn sie nur mit ihm hätte reden können! Aber sobald sie versuchte, sich ihm zu nähern oder auch nur länger zu ihm hinsah, zog man sie fort. Und zu ihm hinüberzurufen wagte sie nicht – wer wusste schon, was ihr dann blühte.
Es ging nicht nur ihr so. Männer und Frauen der Donowai lebten streng voneinander getrennt, offenbar nach festen Regeln, jeder in seinem Bereich. Neben einem Säugling und einigen jungen Mädchen sah Isabel nur zwei kleine Jungen von vielleicht fünf und sieben Jahren, die sich bei ihren Müttern im Frauenhaus aufhielten. Ältere Knaben wohnten bei den Männern im Männerhaus.
Kein Mann durfte ein Frauenhaus betreten, und genauso war es den Frauen untersagt, das Männerhaus zu besuchen. Schon die kleinen Jungen von acht, neun Jahren, die mit Miniaturbogen und -pfeilen herumliefen, hielten sich daran. Nie sah Isabel sie in Begleitung einer weiblichen Person. Offenbar durften nicht einmal ihre Mütter Kontakt zu ihnen haben. Ein Familienleben, wie Isabel es kannte, fand nicht statt. Man arbeitete getrennt, man aß getrennt, man benutzte sogar unterschiedliche Wege. Selbst körperliche Kontakte waren streng reglementiert. Nie sah sie, dass Mann und Frau sich küssten. Nur für eine Sache traf man notwendigerweise zusammen – und vollzog den Akt dann hastig und in aller Öffentlichkeit am Dorfrand oder unter einer Palme, wie Isabel einmal sah, bevor sie sich schamrot abwandte.
Für einen Forscher wäre das alles sicher in höchstem Maße interessant und aufschlussreich gewesen, aber Isabel war kein Forscher. Sie war ja nicht einmal freiwillig hier. Sie wollte weg von diesem Ort! Nach Simbang oder Finschhafen, oder gleich ganz nach Deutschland. Heim zu ihrer Familie! Urplötzlich überfiel sie Heimweh. Nach ihren Eltern, nach ihren Schwestern, nach den engen Gassen von Zirndorf, nach dem Kirchplatz und dem sonntäglichen Braten. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hierherzukommen auf diese Insel am Ende der Welt …
Nein! Entschlossen stoppte sie diese Gedanken. War es nicht genau das, weshalb sie fortgegangen war? Weil sie diese Enge nicht mehr ausgehalten hatte. Weil sie das Getuschel und die mitleidigen Blicke nicht mehr
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