Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
dahinter.
Isabel schüttelte den Kopf. »Das ist das Frauenhaus. Dort kann er nicht sein – kein Mann darf das Gebäude betreten.«
»Dann sieht es mir nicht so aus, als würden wir Ihren Bruder hier finden«, wandte Lauterbach ein, der mit ihr, Dr. Timm und Tupia am Fuß des Männerhauses stand.
Nein, so schnell würde sie nicht aufgeben! Wie von selbst lenkte sie ihre Schritte zu dem Platz, wo sich die Grube befand, die die Donowai zum Garen von Fleischstücken benutzen. Fliegen stoben auf, als sie sich näherte. Hier war offenbar erst vor kurzem ein Festmahl gefeiert worden; rings um den Erdofen lagen große Steine und ein paar Reste von Taroknollen, Süßkartoffelschalen sowie zusammengefallene Bananenblätter. Weitere Steine, Blätterreste und Erde fanden sich in der ausgekühlten Grube.
Das sind Kannibalen! , hatte sie plötzlich ihre eigenen Worte im Ohr. Ein Kloß ballte sich in ihrer Kehle, als sie sich erneut an den Anblick der geräucherten Säuglingshand um den Hals eines der Wilden erinnerte. Sie nahm einen der langen, gabelartig gespaltenen Stöcke auf, mit denen die Donowai die im Feuer erhitzten Steine herausholten, und stocherte damit in der Grube herum.
Sie erstarrte, als sie unter einem Stein etwas Blaues erblickte. Hastig schob sie den Stein beiseite. Darunter lag ein kleiner Fetzen indigoblauen Stoffs. Genau dieselbe Farbe wie das Tuch, das Noah sich manchmal um seinen Haaransatz gebunden hatte.
Eiskalt kroch das Entsetzen in Isabels Knochen.
»Nein«, murmelte sie wie betäubt. Das konnte nicht sein. Sie musste sich irren. Es gab sicher eine andere Erklärung.
Sie warf den Stock weg, stieg in die Grube und kniete nieder. Hektisch wühlte sie in der lockeren Erde, kümmerte sich nicht darum, dass ihre Kleidung schmutzig wurde, grub mit bloßen Händen zwischen dem, was vom Garen zwischen den heißen Steinen übrig geblieben war. Sie stieß auf kleine Knochenreste, zermatschte Früchte, ledrige Blattfasern, wühlte tiefer. Ihre Finger berührten etwas Hartes. Sie zog es heraus – und stieß vor Schreck einen dumpfen Laut aus: Sie hielt einen Unterkiefer in den Händen.
Einen menschlichen Unterkiefer.
Fassungslos starrte sie auf den dunkel verfärbten Knochen, unfähig, ihn loszulassen oder sich auch nur zu bewegen. Sie wollte schreien, heulen, jammern, wollte irgendetwas tun, um den schrecklichen Schmerz auszudrücken, der plötzlich über sie hinwegflutete, aber sie brachte nur ein verzweifeltes Stöhnen über die Lippen.
Nur langsam drang die entsetzliche Wahrheit zu ihr vor.
Die Donowai hatten Noah getötet.
Und ihn gegessen.
Sie war kurz davor, ohnmächtig zu werden. Der rasende Schmerz und die Trauer schienen ihr das Herz aus der Brust zu reißen und alle ihre Glieder zu Mus zu verwandeln. Sie krümmte sich über dem erdverkrusteten Unterkiefer zusammen – das Einzige, das ihr jetzt noch von Noah geblieben war. Noch nie hatte sie für einen Mann so viel empfunden wie für ihn, das wurde ihr jetzt klar. Nein, mehr noch: Sie liebte ihn. Es sich endlich einzugestehen tat unendlich gut. Und gleichzeitig entsetzlich weh. Denn es war zu spät. Er war tot. Nichts mehr war jetzt noch wichtig.
»Was ist hier los?« Lauterbach tauchte an der Grube auf. »Fräulein Maritz, was tun Sie da?«
»Ich glaube, sie hat ihn gefunden«, stellte Dr. Timm neben ihm lakonisch fest.
»Tatsächlich?« Lauterbach ging in die Hocke und spähte in die Grube. »Das tut mir wirklich ausgesprochen leid, Fräulein Maritz. Aber nun kommen Sie, machen wir, dass wir wegkommen, bevor diese Wilden zurückkehren.«
Isabel reagierte nicht, umfasste nur den Knochen in ihren Händen. Mit bebenden Fingern wischte sie die Erde fort, strich über den graubraun verfärbten Unterkiefer und die Zahnreihen auf beiden Seiten.
Dann stockte sie. Die Zähne waren flach, wie abgeschliffen, und in einem Backenzahn entdeckte sie ein großes Loch.
Ihr wurde schwindelig, heiß und kalt zugleich schoss es durch ihre Adern.
»Das ist er nicht«, murmelte sie. »Das … das ist nicht Noah!«
Nur zu gut konnte sie sich noch an jenen Tag in Simbang erinnern, als er sie überlistet hatte. An seine Behauptung, Zahnschmerzen zu haben, und an ihren Blick auf sein makelloses Gebiss. Welcher Unglückliche auch immer in dieser Grube gelandet war – es war nicht Noah! Möglicherweise rührte dieser Kieferknochen von einem länger zurückliegenden grausigen Mahl her.
Mit einem Laut des Abscheus warf sie den Unterkiefer zurück in die
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