Im Herzen der Wildnis - Roman
Shannon es aus ihr herausgezogen und ihr auf den Bauch gelegt hatte. Dieser Moment war unvergleichlich schön und bewegend gewesen. Shannon hatte an die bevorstehende Geburt ihres eigenen Kindes gedacht, und ihr Herz hatte wie wild geklopft. Die Freudentränen und das überwältigende Gefühl der Erleichterung hatten die beiden Frauen miteinander geteilt. Shannon hatte sich neben Bessie gelegt und sie und das Kind im Arm gehalten. Dann hatte sie mit ihrem Bowiemesser die Nabelschnur durchtrennt, hatte das Kind im Fluss gewaschen und in eine warme Decke gewickelt. Anschließend hatte sie Mutter und Kind allein gelassen, damit sie sich ausruhen konnten. Die Morphiumspritze, die sie Bessie wegen ihrer starken Rückenschmerzen gegeben hatte, wirkte noch nach. Bessie hatte ihre Singer-Nähmaschine samt Nähtisch und Pedal über den Trail geschleppt, als plötzlich und heftig die Wehen eingesetzt hatten. Shannon war sofort vom Pferd gesprungen, als sie Bessie mit ihrer schweren Nähmaschine auf dem Rücken stürzen sah, und hatte ihr bei der Geburt beigestanden.
»Du hast sie toll hingekriegt, Bessie. Auch ohne Daddy.«
»Shannon, ich hoffe, du findest einen Daddy für dein Kind.«
Sie nickte gerührt. »Danke, Bessie. Das ist lieb von dir.«
»Ich wünsche es dir so sehr. Dass du den Richtigen findest. Und dass du mit ihm glücklich wirst. Und vielen Dank für alles. Du hast so viel für mich … für uns getan.«
»Schon gut.« Nach der Geburt war sie so erschöpft wie Bessie, denn in den letzten achtundvierzig Stunden hatte sie kein Auge zugetan. Skip hatte sie in Atem gehalten.
»Und richte deinem Bruder meinen Dank für das Morphium aus. Ich weiß, was er für mich getan hat, als er mir eine von seinen Ampullen abgegeben hat.«
»Ich sag’s ihm. Er wird sich freuen.« Sie beugte sich über Bessie und legte ihr das Kind in den Arm. »Darf ich noch ein Foto von euch beiden machen?« Sie schoss mehrere Fotos von Bessie mit Bonnie im Arm. »Ich schicke dir die Abzüge der Fotos. Und natürlich den Artikel, sobald er erschienen ist.«
»In New York, Chicago und San Francisco«, erinnerte sich Bessie. »Die Schneiderin aus Seattle, die mit ihrer Nähmaschine, ihren Stoffballen und ihren Modejournalen nach Dawson unterwegs ist, um im ›Paris des Nordens‹ die Haute Couture einzuführen. Und die auf dem Weg dorthin ein Kind bekommt.«
Bessie war nach Alaska gekommen, nachdem ihr Verlobter sie verlassen hatte, um eine andere zu heiraten. Enttäuscht hatte sie ihren Laden in Seattle aufgegeben, hatte ihre Bündel gepackt und war nach Dawson aufgebrochen. Wegen der Goldfunde am Klondike galt die Stadt am Yukon, die größte nördlich von San Francisco, als reich und mondän: Es gab Spielsalons, Tanzsäle, Theater und sogar eine Oper. Die Möbel wurden aus England importiert, die Mode aus Paris. Das Paris des Nordens versank allerdings knietief im Schlamm, wenn der Yukon nach der Schneeschmelze über die Ufer trat.
In Valdez hatte Bessie eine Gruppe von Goldsuchern angesprochen, die nach Norden ziehen wollten. Die Männer hatten sich bereit erklärt, sie mitzunehmen, wenn Bessie unterwegs für sie kochte und wusch. Shannon bewunderte Bessie für ihren Mut, allein nach Alaska zu gehen und sich auf dem Weg einer Gruppe von Männern anzuvertrauen, von denen sie nichts wusste außer ihren Namen. Bessie hatte lässig abgewinkt. Als ein Indianer, dem sie auf dem Trail begegneten, die Männer fragte, ob er die hochschwangere Frau kaufen könnte, waren sie verblüfft und schockiert gewesen. Ein Kanadier, Jean Lafleur aus Toronto, hatte dem Indianer erklärt, Bessie sei seine Squaw und daher nicht zu verkaufen. Shannon hatte Jean während der Geburt kennengelernt, als er besorgt nach Bessie gesehen hatte. Jean war ein Mountie, der auch ohne rote Uniformjacke und blaue Breeches umwerfend aussah. Er war ein netter Kerl und ein echter Gentleman. Wer weiß, vielleicht bahnte sich hier eine abenteuerliche Romanze an? Vielleicht würde Bonnie ihn eines Tages Daddy nennen?
»Shannon, ich wünsche dir viel Glück bei der Geburt deines Kindes. Und bei der Suche nach einem Daddy, der es von ganzem Herzen liebhat.«
Gerührt nickte Shannon. »Pass gut auf deinen kleinen Schatz auf.«
»Bonnie ist das Wertvollste in meinem Leben.«
Shannon küsste Bessie auf die Stirn und fuhr der schlafenden Bonnie zart durch das seidige Haar, dann richtete sie sich wieder auf. »Leb wohl.«
Sie drehte sich um und marschierte zu ihrem Lager
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