Im Herzen der Wildnis - Roman
wieder ernst. »Vielleicht ist das meine Art, eine viel zu große Schuld zu sühnen. Ich kann mich ihr nicht stellen, verstehst du? Ich kann nicht nach Hause fahren und sagen: Tut mir leid, Dad, aber er ist tot. Ich kann meine Brüder nicht trösten, und ich will nicht von ihnen getröstet werden. Ich komme einfach nicht darüber hinweg, so gern ich es vergessen will, um endlich meinen Frieden mit mir selbst zu machen. Also versuche ich wenigstens, ihnen so oft wie möglich Briefe zu schreiben und ihnen Geld zu schicken. Meiner Schwester habe ich auch etwas gegeben. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Great Falls. Er ist ein ziemlicher Idiot. Was er nicht im Kopf hat, hat er in den Fäusten. Er schlägt sie. Beide. Meine Schwester will sich von ihm trennen. Sie braucht ein bisschen Geld. Ich will ihr eine Farm kaufen. Und den passenden Kerl dazu, der sie mit mehr Respekt behandelt als ihr künftiger Ex-Ehemann.«
»Du bist sehr großzügig.«
»Sie sind meine Familie«, sagte Jake einfach. »Das ist leicht dahingesagt. Aber was das bedeutet, wird dir erst klar, wenn du einen Bruder verloren hast, der vor deinen Augen starb.«
Josh nickte versonnen. Er dachte an die Nacht seines Abschieds, an Charltons Herzinfarkt und an Sissys Tränen. An seinen Abschiedsbrief an Shania auf der Plattenhülle von Liszts Liebestraum . Plötzlich sehnte er sich nach Hause.
»Ich weiß, was du empfunden hast, als Ian in die Gletscherspalte stürzte«, sagte Jake leise.
Joshs Augen brannten. »Willst du irgendwann zurück nach Montana?«, fragte er. »Deine Familie wiedersehen?«
Jake schüttelte den Kopf. »Ich liebe die Wildnis und das einfache Leben. Ich liebe das Abenteuer, die Weite und die Freiheit. Ich lebe den Traum, für den mein Bruder gestorben ist, ohne ihn zu Ende geträumt zu haben.«
Lag es an Jakes unbefangener Aufrichtigkeit? An seiner heiteren Gelassenheit, die er trotz seiner Trauer und seiner Reue verbreitete? Oder an dem schönen Abend, den sie gemeinsam am Lagerfeuer verbrachten? Egal warum – Joshs Stimmung schlug um. Nach und nach fand er Gefallen an der Vorstellung, mit Jake den Fluss hinunterzufahren. Was an diesem Nachmittag zwischen ihnen geschehen war, spielte plötzlich keine Rolle mehr, weder für Jake noch für Josh. Seine gute Laune wirkte ansteckend auf Josh. Er war so selbstbewusst und gleichzeitig so umkompliziert, dass Josh sich Vorwürfe machte, so unfreundlich zu ihm gewesen zu sein.
Der Aufbruch nach dem Frühstück am nächsten Morgen verzögerte sich. Jake kehrte zum Handelsposten zurück, um Vorräte zu kaufen. Als er zurückkehrte, hatten Colin und Josh ihr Gepäck bereits in ihre Kanus verladen. Während Colin die Kisten und Säcke in das kleine Jagdkanu packte, brachte Josh die Pferde zurück zum Handelsposten, denn sie mussten sie zurücklassen. Jake begleitete ihn. Josh war gerührt, als Jake ihm ein Notizbuch in die Hand drückte. »Für deine Briefe an Shania. Im Handelsposten gibt es ja kein Briefpapier.« Josh bedankte sich herzlich.
Jakes heitere Gelassenheit tat ihm gut. Er fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. Wie sehr unterschied sich Jake doch von Colin mit seinem aufbrausenden Temperament und seinen ungestümen Wutausbrüchen. Colin war für Josh ein guter Freund geworden, er war zuverlässig und voller Mitgefühl. Aber Joshs Gefühle für Jake, die sich während des gemeinsamen Weges langsam zu entwickeln begannen, waren etwas ganz Besonderes. Jake hatte etwas Unwiderstehliches an sich, das Josh in den Bann zog, eine triebhafte Kraft, seine Wünsche und Träume in Erfüllung gehen zu lassen, die Josh bewunderte. Jake gestand, dass er schon seit gestern dasselbe für Josh empfand. Als Freund war Jake selbstlos und aufopfernd, und er hatte ein feines Gespür für Stimmungen. Joshs Reaktion auf seine Frage nach dem fehlenden Hund des Gespanns und seine Vermutung, es habe einen tragischen Unfall gegeben, der Josh noch immer sehr naheging, hatte Jake sehr betroffen gemacht.
Nach einem Bad im Tanana und einer Tasse Kaffee brachen sie auf. Sie schoben die schwer beladenen Kanus ins Wasser, die Huskys sprangen in die drei Boote und machten es sich auf der Ladung bequem, und sie paddelten zwischen den Sandbänken hindurch in die reißende Strömung im Hauptarm des Flusses. Trotz der schweren Ladung lagen die Kanus gut und stabil im Wasser, solange die Huskys sich ruhig verhielten. Sprangen sie kläffend auf den Kanus umher, weil sie am Ufer ein Karibu, einen
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