Im Herzen der Wildnis - Roman
Abschiedsbrief, ergreifend, traurig und schön. Beigefügt war eine Schachtel mit fünfzig weiteren Briefkärtchen gewesen – eine für jeden Tag ihrer Abwesenheit während ihrer Flitterwochen mit Lance in London und Paris. Diese Briefe bewiesen, sagte er, was für eine wundervolle Frau Sissy war, liebevoll und warmherzig. Und Lance’ Bekenntnis in der Kirche, das alle zu Tränen gerührt hatte, bewies ihm, dass sie bei ihrem Mann in liebevollen Händen wäre. Er hatte sein Glas erhoben, und die ganze Hochzeitsgesellschaft hatte nach den Gläsern gegriffen. Als das Rascheln und Klirren verstummt war, hatte Rob den Trinkspruch ausgebracht: »Sissy … Lance … Ich wünsche euch beiden alles Gute! Mögen alle eure Träume in Erfüllung gehen! Werdet so glücklich wie Shannon und ich!« Lance war aufgestanden und hatte ihn umarmt, und auch Sissy hatte sich für die Rede bedankt und ihn auf die Lippen geküsst.
Aber jetzt spürte er, dass sie zu schluchzen begann. »Sissy …«
Sie schüttelte den Kopf, ihre Stirn immer noch an seiner Schulter. Er griff hinter sich, packte ihre Hände und löste ihre Arme, die ihn umklammerten. Sie wehrte sich, aber er schob sie von sich weg, sodass sie jetzt mit Abstand tanzten. Endlich sah sie auf. Dieser Blick! Sie fühlte sich von ihm zurückgewiesen. Abrupt wandte sie sich um und flüchtete aus dem Saal.
Shannon, die noch immer mit Lance tanzte, warf ihm einen Blick zu. Mit den Lippen formte sie die Worte: Was ist passiert?
Rob zuckte mit den Schultern und kämpfte sich zwischen den Tänzern hindurch zur Bar, um sich ein Glas Champagner geben zu lassen. Fünf Minuten. Dann wollte er nach ihr sehen.
»Geben Sie mir zwei Gläser Whiskey«, bat er den Kellner, der ihm das leere Champagnerglas abnahm. Mit den Gläsern machte er sich auf die Suche. Um halb zwei war die Party noch in vollem Gange. Die Gäste tummelten sich im Haus und in den Gartenpavillons, der Bräutigam tanzte und flirtete mit seiner Frau, aber die Braut war nirgendwo zu finden.
Charlton, der in seinem Arbeitszimmer eine Havanna paffte und mit dem Vater des Bräutigams plauderte, hatte keine Ahnung, wo sie steckte. »Vielleicht zieht sie sich um? Sie wollte doch eigentlich das Abendkleid aus blauer Seide tragen.«
»Ich sehe mal nach ihr.« Er ging nach oben und klopfte an.
Durch die Tür konnte er ihr Schluchzen hören. Er trat ein und schloss die Tür. Sissy lag auf dem Bett. Das Mieder ihres Brautkleides war am Rücken geöffnet, der Spitzenschleier lag vor dem Bett. Rob stellte die Gläser auf den Nachttisch und gab ihr sein Taschentuch. Sie riss es ihm aus der Hand und wischte sich damit über das Gesicht. »Sag mal, wie viel Champagner hast du getrunken?«
»Nicht genug!«, schniefte sie. »Es tut noch weh.« Sie deutete auf ihr Herz.
Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
Sie schluchzte auf: »Ich wünschte, Josh wäre jetzt hier!«
»Wieso Josh?«, fragte er verwirrt.
»Er wollte mich in die Kirche führen.«
»Tut mir leid«, murmelte er betroffen. »Das wusste ich nicht.«
»Josh hatte sich so sehr darauf gefreut, mich zum Altar zu führen. Aber es gab einen Sturm in der Beringsee. Er muss jetzt irgendwo zwischen Vancouver und San Francisco sein.«
Er nahm ihr das Taschentuch aus der Hand und wischte den verlaufenen Lidstrich ab.
»Vielleicht kommt er noch.« Sie ließ sich auf das Bett zurückfallen und blickte zur Decke.
»Soll ich dir aus dem Brautkleid helfen?« Als sie nickte, schob Rob die Seide über ihre Arme und küsste ihre Schulter. »Sei nicht traurig. Es ist deine Hochzeitsnacht. Lance liebt dich.«
Seufzend zog sie die Beine an und spreizte die Knie. »Ich würde diese Nacht lieber mit dir verbringen. Schläfst du mit mir? Bitte, Rob!«
Er lachte trocken, um seine widerstreitenden Gefühle zu überspielen. Er würde sehr gern mit ihr schlafen, nur nicht gerade in ihrer Hochzeitsnacht. Er war ein bisschen schockiert, dass sie ihn in ihrem Bett verführen wollte.
»Es würde mir so viel bedeuten, Rob! Es wäre ein schöner Abschied von meinem Geliebten … Oh, bitte entschuldige! … von meinem besten Freund.«
»Sissy, du hast definitiv zu viel Champagner getrunken.«
»Ja? Nein?«, fragte sie nach. Ihr Tonfall war herausfordernd.
»Nein.«
Enttäuscht presste sie die Lippen aufeinander. »Du wirst immer da sein, Rob. Mit dem einen Mann, mit dem ich alle anderen vergleiche, kann Lance es nicht aufnehmen.«
»Sissy …«
»Lance weiß das«, unterbrach sie ihn.
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