Im Herzen der Wildnis - Roman
ihrem Gesicht verschwand und ihre Finger sich um den Telefonhörer verkrampften. »Was ist mit ihm?«
»Ich habe gerade einen Anruf erhalten … aus der Lodge.«
Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer. »Und?«
»Er ist tot, Shannon.« Caitlin atmete tief durch. Ihre Stimme klang kehlig. »Dein Bruder hat sich erschossen.«
Hinter ihr hörte Shannon das Klicken der Kamera. Immer noch wurden Fotos von ihr gemacht. »Aidan ist tot?«, flüsterte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie hörte, wie Rob neben ihr voller Entsetzen aufkeuchte. Er war so fassungslos wie sie. In den letzten Wochen war Aidan einige Male hier gewesen, um mit Rob zu reden. Erst gestern hatte sie von Monterey aus mit ihrem Bruder telefoniert. Und jetzt konnte sie nie wieder mit ihm sprechen? Nie wieder mit ihm lachen? Sie hatten gestern so viel Spaß am Telefon gehabt … sie hatten gescherzt und gelacht, und nun …
Aidan war nicht mehr der Mann, der er früher gewesen war. Er war verbittert gewesen, und er konnte schroff und verletzend sein. Aber in den letzten Wochen hatte er ihr das Gefühl gegeben, dass er trotz aller Demütigungen und Herabwürdigungen durch Caitlin seinen Lebenswillen nicht verloren hatte. Er hatte mit ihr über ein neues Kommando als Colonel gesprochen. Hatte er ihr etwas vorgespielt, so wie Skip das immer tat?
Selbstmord!
»Shannon? Bist du noch dran?«
Als sie Caitlin antwortete, hörte sie, wie leise die Tür des Salons geschlossen wurde. Die beiden Reporter waren taktvoll genug, ihre Sachen zusammenzupacken und zu verschwinden.
»Aidans sterbliche Überreste liegen noch in Cathedral Grove. Ich fahre jetzt dorthin, um ihn nach Hause zu holen. Ich wollte dich fragen …«
Shannon hörte ein leises Schluchzen auf der anderen Seite. Sie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, ein »Gott steh mir bei! Es ist alles meine Schuld!« zu hören.
»Was wollten Sie mich fragen?«, fragte sie, erstaunt über den ungewohnten Gefühlsausbruch.
Sie merkte ihrer Großmutter an, wie schwer ihr diese Bitte fiel: »Ob du mich auf diesem schweren Weg begleiten könntest. Ich weiß nicht, ob ich es allein schaffe … Und du hast ihn doch schon einmal nach Hause geholt …«
Dann begannen sie beide zu weinen. Aber die Trauer um den verlorenen Enkel und Bruder verband sie nicht im gemeinsam empfundenen Schmerz.
Behutsam, als könnte sie Caitlin mit dieser Geste verletzen, legte Shannon auf, wischte sich die Tränen ab und sah Rob an. »Ich muss zu ihr, um ihr beizustehen. Kommst du mit?«
Wenn deine Söhne und Enkel vor dir sterben …
Ein schmerzhaftes Frösteln, ein Gefühl der inneren Leere riss Caitlin aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie setzte sich im Bett auf und fuhr sich mit beiden Händen über das schweißnasse Gesicht. Sie schlug die Decke zurück, stand auf und tappte auf nackten Füßen zur Tür ihres Schlafzimmers.
Aidan lag in einer Galauniform der Army im offenen Sarg im Salon aufgebahrt. Im Arm hielt er seinen Säbel und die gefaltete Flagge. Caitlin trat an den Sarg, dessen Deckel am Katafalk lehnte. Er war mit einem Bouquet aus weißen Lilien geschmückt.
Aidans Lächeln war ihr unbegreiflich, seit sie heute Nachmittag seine sterblichen Überreste in Cathedral Grove gesehen hatte. Ihr Enkel sah aus, als schliefe er nur. Aidan ruhte auf einem weißen Seidenkissen. Es verbarg das Schlimmste: Seine Schädeldecke und die Hälfte seines Gehirns fehlten. Und trotzdem lächelte er?
In einen Schleier aus Schmerz gehüllt, hielt Caitlin sich taumelnd am Sarg fest, um nicht zu stürzen. Sie stolperte zurück zur ersten Stuhlreihe, ließ sich mit zitternden Knien auf einen Stuhl sinken, raffte fröstelnd das Nachthemd um sich und dachte nach.
Die Vorstellung, das eigene Kind zu Grabe zu tragen, war furchtbar. Wenn deine Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit, heißt es. Wenn deine Kinder und Enkel sterben, nehmen sie die Zukunft mit. Mit ihnen sterben die Hoffnung und alles, was du dir für sie erträumt hast. Mit ihnen gehen die besten Freunde, und die Einsamkeit hüllt dich ein.
Colin hatte ihre Telegramme nicht beantwortet. Skip hatte sich weinend in seine Räume verkrochen. Nur Shannon war mit Rob gekommen, um ihr in dieser schweren Stunde beizustehen. Nicht, dass sie sie umarmt hätte, um sie zu trösten, oder ihr die Hand zur Versöhnung gereicht hätte. Aber sie war gekommen. Sie ließ ihre Großmutter nicht allein. Sie half ihr bei dem verzweifelten Versuch zu verstehen, warum Aidan nicht anders
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