Im Herzen der Wildnis - Roman
übertönte Shannon. Pappschilder und Stoffbanner mit der Aufschrift »Wählt Eoghan Tyrell in den Senat!« wurden geschwenkt. Eine Band der US Army spielte mit Pauken und Trompeten einen schmissigen Tusch. Und ein paar ganz harte Kerle zogen ihre Colts und ballerten übermütig in die Luft.
Neben ihr auf der hinteren Plattform des Pullmanzuges, mit dem sie vor drei Wochen von der Ostküste zurückgekehrt war, stand Eoghan. Mit erhobenen Händen bat er um Ruhe, damit sie ihre Wahlkampfrede fortsetzen konnte. Trotz des Attentats auf ihn vor einigen Tagen, bei dem er unverletzt geblieben war, wirkte er kein bisschen eingeschüchtert.
»… denn Eoghan Tyrell wird sich für die Rechte der Frauen einsetzen!«, rief Shannon. »Er hat eine Gesetzesvorlage erarbeitet, die in die Verfassung von Kalifornien aufgenommen werden soll: das Recht für uns Frauen zu wählen!«
Frenetischer Jubel brandete auf.
Die Frauen lagen Eoghan zu Füßen, den eine Zeitschrift in New York unlängst zum attraktivsten Junggesellen Amerikas gewählt hatte: charmant, reich, gut aussehend und politisch erfolgreich. Seine unzähligen Affären, bei denen er sich wie ein Lausejunge mit den Fingern im Honigglas erwischen ließ, machten ihn für seine Verehrerinnen nur noch ruchloser und interessanter. Eoghan unterwarf sich die Frauen – das würde Lance’ Schwester Gwyn, die mit ihnen nach San Francisco gekommen war, auch noch zu spüren bekommen …
Shannon blickte hinunter zu Gwyn – sie stand neben zwei älteren Ladys, Phoebe Hearst und Jane Stanford, beide engagierte Suffragetten, die begeistert applaudierten. Ihre Mentorin signalisierte ihr mit zusammengelegtem Daumen und Zeigefinger: Brillant, Shannon! Während ihres Studiums hatte Jane Stanford die Stelle ihrer Großmutter vertreten. Janes Blick flog zu ihrer Freundin Caitlin, die hinter Eoghan stand und ihren Triumph sichtlich genoss.
In diesem Augenblick entdeckte Shannon Mr Wilkinson in der dicht gedrängten Menge. Er schob sich zu ihr herüber und winkte. Sie nickte ihm zu und setzte ihre Rede fort:
»Eoghan Tyrell wird die Mythen bekämpfen, die euch Männern als legitime Argumente dienen, um uns Frauen aus Universitäten zu verbannen, um uns Jobs zu verwehren und um uns von der Politik fernzuhalten. Wieso glaubt ihr denn allen Ernstes, eine Frau sei einem Mann moralisch überlegen? Ist sie nicht! Nein, Jungs, ich habe ein Recht darauf, meine eigenen Fehler zu machen! Im Ernst, dafür brauche ich euch nicht!« Brüllendes Gelächter. »Wieso glaubt ihr Männer, dass Frauen euch körperlich wie geistig unterlegen sind? Wieso behauptet ihr, einen Haushalt zu führen, Kinder zu gebären und zu erziehen erfordere keine höhere Bildung?«
Ein Zwischenruf! »Wann werden Sie heiraten und Kinder kriegen, Shannon?«, brüllte ein junger Mann in anzüglichem Tonfall, die Beine gespreizt, die Schultern gestrafft.
»Wenn ich den passenden Kerl gefunden habe!«
»Nehmen Sie mich!«, bot er sich grinsend an und ruckte dabei mit den Hüften, sodass jeder verstand, was er meinte.
Sie schüttelte den Kopf. Sein überhebliches und beleidigendes Gebaren empfand sie als lächerlich und dumm. »Wenn Sie es mit mir aufnehmen können, Sir!«, verpasste sie ihm eine. »Ich habe in Stanford studiert … und Sie?«
Ausgelassenes Gelächter und hämisches Schulterklopfen.
Jane, die Witwe von Gouverneur Leland Stanford, reckte beide Fäuste in den Himmel und triumphierte. Und Phoebe, die Witwe von Senator George Hearst und Mutter von William Randolph Hearst, beklatschte Shannons Schlagfertigkeit so begeistert, dass ihr schon die Hände wehtun mussten.
Der Beistand der beiden gestandenen Ladys ermutigte Shannon: »Frauen haben als Pionierinnen den Wilden Westen erforscht und besiedelt. Frauen haben Kalifornien beackert und urbar gemacht. Frauen haben hier Gold gesucht und gefunden. Frauen haben hier Handel getrieben, eine Universität für Frauen gegründet und dieses Land industrialisiert. Und Frauen haben es zu dem gemacht, was es heute ist: der reichste, fortschrittlichste und modernste Staat der Vereinigten Staaten … ach, was rede ich: der Welt! Und daher, meine Freunde, haben wir Frauen das unanfechtbare Recht, dieses Land …« Dramatische Pause. »… auch zu regieren! «
Der empörte Aufschrei eines Mannes wurde sofort von dem begeisterten Johlen und Pfeifen Hunderter Frauen niedergebrüllt: »Wir fordern das Wahlrecht!« – »Lasst uns Frauen an die Macht!« – »Wir wollen
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