Im Herzen der Zorn (German Edition)
sie zu vertreiben?«
»Hast du ihn je danach gefragt?«, wollte Em wissen.
»Nein«, erwiderte Drea entschieden. »Er hat schon genug gelitten.«
Einen Moment lang war alles still, bis auf das Bullern des Ofens und das leise Geräusch des Fernsehers von oben. Em wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie sah, wie sich Dreas Schultern unter ihrem Sweatshirt hoben und senkten. Sie hätte sie am liebsten in den Arm genommen. Sie getröstet. Sie versuchte, sich auszumalen, was Drea durchgemacht hatte … und konnte es nicht. So weit reichte ihre Vorstellungskraft gar nicht. Also strich sie Drea stattdessen über den Rücken. Doch Drea zuckte zusammen, wich zurück.
»Wir ziehen das gemeinsam durch, ja?«, sagte Em.
Drea antwortete mit einem halbherzigen Lächeln. »Die Prinzessin und die Punkerin – was für ein Team.«
In dem Moment begann es in der Ferne zu läuten. Sechs Uhr.
»Mist!«, fluchte Em. Sie kam fast eine ganze Stunde zu spät zu ihrem Treffen. »Ich muss los. Ich bin mit Gabby verabredet.«
»Geh nur«, sagte Drea. »Ich brauch sowieso ein bisschen Zeit für mich.«
Als sie aus Dreas Keller kam, wurde Em klar, wie hoffnungslos zu spät sie war. Gabby hatte schon mehrere SMS geschickt: Wo bleibst du denn? … und: Wir verpassen noch den Film … und dann: Kommst du überhaupt noch? … und dann: Na ja, dann mach ich mich eben zum Schlafen fertig. Wir sehen uns in der Schule …
Em versuchte, Gabby anzurufen, um ihr zu sagen, dass sie unterwegs war, aber keiner hob ab. Wahrscheinlich war sie sauer und ignorierte ihre Anrufe. Als sie bei ihr zu Hause ankam, stand Gabbys Wagen in der Einfahrt und in ihrem Zimmer brannte Licht. Gut. Sie war also noch wach.
Aber es machte niemand auf, weder als sie an der Haustür klingelte noch als sie klopfte, noch als sie es wieder auf Gabbys Handy versuchte und ebenso wenig, als sie die Festnetznummer der Doves wählte. Sie hörte es drinnen klingeln, schrillen. »Gabby?« Em rief am Haus hinauf. Ihr Herz fing an zu pochen, leise zuerst, um dann gegen ihren Brustkorb zu hämmern. Das war nicht Gabby, die sie ignorierte. Irgendetwas stimmte nicht. Sie hatte es im Gefühl.
Sie lief ums Haus herum zur Hintertür, von der sie wusste, dass sie unverschlossen war. Sie trat in die riesige Küche der Doves. »Gabs?« Keine Antwort, nur der Widerhall ihrer Stimme vom kühlen Edelstahl.
Sie ging weiter in den Hausflur und langsam die Treppe hinauf. »Gabby?« Sie wiederholte Gabbys Namen ununterbrochen, wie ein Mantra.
Ganz langsam schob Em Gabbys Zimmertür auf. Die Tür strich leise über den Teppichboden. Das war zunächst alles, was Em sah – Teppichboden und Gabbys Bett und den ganzen üblichen Kram. Parfumduft hing in der Luft. Und dann, ein Fuß. Ein nackter Fuß mit lackierten Nägeln. Gabbys.
Gabby lag da, die Atmung flach, das Gesicht aufgedunsen und furchtbar geschwollen. Wie mit Bienenstichen übersäte Haut. Wie Brot in einer Schüssel mit Wasser.
Em wusste sofort, was los war. Gabby hatte eine allergische Reaktion. Und das war schlimm. Richtig schlimm.
»Gabby? Gabby! Wach auf!« Sie schrie ihre Freundin an und griff nach dem Handy, wählte mit zitternden Händen die Notrufnummer. Sie kniete sich hin und legte das rechte Ohr auf Gabbys aufgeblähte Lippen, um sich zu versichern, dass sie noch lebte. Ihr Atem war nur noch ganz schwach, heiß und kaum spürbar.
»Ja, hier liegt ein Mädchen, 261 Allen Drive – ich glaube, sie hat eine allergische Reaktion«, schluchzte Em der Notrufzentrale ins Telefon. »Bitte. Kommen Sie. Kommen Sie schnell.« Wo war nur ihre Adrenalinspritze? Em fing an, Gabbys Sachen zu durchsuchen, warf die einzelnen Teile aus ihrem Nachttisch, kippte den Inhalt ihrer Tasche auf den Boden. Nichts.
Und während sie Gabbys Habseligkeiten durchwühlte und ihr heiße Tränen in die Augen stiegen, hörte sie auf einmal mädchenhaftes, gehässiges Gelächter durch die Luft klingen. Zufriedenes Kichern, das von irgendeinem nicht identifizierbaren Ort kam. Im Haus. Oder draußen. Oder vielleicht aus Ems Innerem. Es war unmöglich, das festzustellen.
Während sie Gabbys Hand umklammert hielt, in der Hocke vor- und zurückschaukelte und auf den Krankenwagen wartete, raste ihr nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: Irgendwie hatten die Furien auch hiermit etwas zu tun .
Kapitel 22
Schon lange bevor sie in Gabbys Zimmer im Krankenhaus ankam, roch Skylar Blumen. Der Duft war schwer, überreif, als betrete man mitten im Juli einen
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