Im Herzen der Zorn (German Edition)
Schönheitswettbewerb zurecht. Wie man es in Träumen eben weiß – besonders in schlechten –, weiß Skylar, was passieren wird … dass sie in der Kategorie »Besonderes Talent« versagen wird, dem erbärmlichen Tüpfelchen auf dem i einer enttäuschenden Darbietung, und dass sie in dem Wettbewerb überhaupt keine Platzierung erringen wird. Wieder eine Demütigung. Skylar fragt sich, wie viel davon sie noch ertragen kann.
Währenddessen wird Lucy die Preisrichter mit ihrer klaren Gesangsstimme, ihrem anmutigen Tanz, ihrem perfekt abgestimmten Aussehen und ihrem strahlenden Lächeln begeistern. Doch im Moment befinden sie sich noch in der Garderobe hinter der Bühne. Ihre Mutter sieht ihnen, eher lustlos, aus der Zimmerecke zu. Gibt hin und wieder »Tipps«. Lucy hat Skylar schon in den Arm gezwickt. Jetzt hilft sie ihr beim Frisieren. Sie zieht zu fest, wahrscheinlich mit Absicht, und es tut weh. Skylar schreit auf, so weh tut es. Lucy beugt sich vor, ganz nah an Skylars Ohr, und flüstert: »Es soll wehtun. Verstehst du das nicht, Sky-Sky? Leben bedeutet Schmerz.«
Schmerz. Skylar stöhnte laut auf, als die Welle sie zurück zu vollem Bewusstsein trug. Sie hatte plötzlich das Gefühl, jemand zöge ihr an den Haaren – als wäre Lucy bei ihr und kratzte mit einer Bürste auf ihrem Kopf entlang. Nein. Sie war im Krankenhaus. Der Schmerz an ihrem Haaransatz kam von der Naht in ihrer Haut, die eine Schnittwunde auf ihrem Kopf zusammenhielt. Das Glas. Der Schnee. Die Erinnerungen stürzten auf sie ein, zusammen mit einem brennenden Schmerzgefühl.
Aber dann ebbte der Schmerz ab und sie glitt in einen warmen Strudel. Wurde rasch wieder abgetrieben, zurück zu ihren Traumbildern …
Als Lucy den Raum verlässt, ist Skylar wütend. Was weiß Lucy schon von Schmerz? Der Zorn rotiert in Skylars Brust und mit jeder Umdrehung wird er stärker. Skylar sieht sich um und entdeckt Lucys goldene Glitzerpumps, die sie immer bei der Kategorie »Besonderes Talent« trägt. Dem Teil des Schönheitswettbewerbs, bei dem Lucy glänzen und Skylar versagen wird.
Sie nimmt die Schuhe in die Hand und bricht mit einer Kraft, von der sie gar nicht wusste, dass sie sie besitzt, beide Absätze ab. Sie schleudert sie quer durch die Garderobe. Einen Moment lang lässt ihre Wut nach. Aber sie hat noch nicht genug. Sie will mehr. Dann die Idee: blitzschnell, wie besessen, öffnet sie ihren »Notfallkoffer« und kramt eine Flasche Klebstoff heraus, die normalerweise als Last-Minute-Hilfe bei verloren gegangenen Strasssteinen dient. Sie hebt die Schuhe auf und klebt die Absätze wieder an. Sie sehen fast normal aus, als wäre nichts passiert. Lucy wird den Unterschied gar nicht bemerken. Perfekt. Sie werden gerade so lange halten, bis sie auf der Bühne ist, dann werden sie durch die ungleichmäßige Belastung ihrer Tanzschritte wieder abbrechen. Skylar lächelt zufrieden und ist endlich in der Lage, tief durchzuatmen.
Aber jetzt im Bett war sie plötzlich panisch, unfähig, ihre Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Sie klammerte sich an das raue Krankenhauslaken, versuchte, in dieser Realität zu bleiben, zu verhindern, dass sie von der nächsten Flutwelle mitgerissen wurde. Aber nirgends gab es eine Schwimmweste. Wieder tauchte sie unter.
Skylar steht hinter der Bühne, als Lucy stolz den Laufsteg entlang auf die Preisrichter zuschreitet. Das Licht ist grell und heiß und Skylar kann nichts erkennen, außer Lucys Silhouette. Wie sie stolpert. Mit den Armen rudert, beinahe wie eine Zeichentrickfigur. Hinstürzt. Skylar kann ihre Augen nicht erkennen, aber sie weiß, wie sie aussehen: leuchtend, weit aufgerissen, schockiert. Dann ein berstender Laut, als Lucy auf den Boden knallt.
Nein, nicht auf den Boden. Ein Rampenlicht – ein Scheinwerfer mit scharfkantigem Aluminiumgehäuse, das am Laufsteg befestigt ist und die Mädchen von unten anstrahlt. Das Glas zerbirst, als Lucys Kopf darauf auftrifft. Dann nichts. Das Publikum schweigt, während die Musik weiterspielt wie eine kaputte Langspielplatte. Die springt. Am Bild von Lucys eingeschlagenem Gesicht ins Springen gerät. Lucy liegt reglos da. Unter ihr verteilt sich Blut in Form eines Schmetterlings, so als breitete sie ihre Flügel aus …
»Das hab ich nicht gewollt«, murmelte Skylar. Die Haut in ihren Mundwinkeln war ausgetrocknet und begann zu reißen. Sie führte die Hände ans Gesicht und fühlte den Stoff, der ihr um Wangen und Kinn gewickelt war, das Klebeband an ihren Ohren,
Weitere Kostenlose Bücher