Im Herzen der Zorn (German Edition)
nicht zu JD, seine Sachen so herumliegen zu lassen.
Oben in ihrem Zimmer flocht sie sich die Haare zu einem Zopf und setzte sich an den Schreibtisch, den sie endlich für seinen vorgesehenen Zweck benutzte und nicht nur als Kleiderablage. Zum hundertsten Mal blickte sie zu JDs Fenster hinüber. Zu dem Fenster, aus dem sie einmal ein Seil bis zu ihrem gespannt hatten, um sich Nachrichten zu übermitteln. Zu dem Fenster, an dem er seit drei Wochen die Rollläden heruntergelassen hatte, durch die jetzt warm das Licht seiner Lampe schimmerte. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt und die Scheibe berührt.
Die letzten Tage waren ruhig verlaufen. Keine unheimlichen Nachrichten auf ihrer Windschutzscheibe, keine von unsichtbaren Dämonen herabgeschleuderten tödlichen Eiszapfen. Sie hatte den größten Teil der Woche damit verbracht, mit Drea herumzufahren, dabei Musik, die Drea »Math Rock« nannte, zu hören – lange komplizierte Songs, die ständig den Takt wechselten und sich nie auf eine Melodie oder einen bestimmten Rhythmus festlegten – und darauf zu warten, dass die Furien wieder auftauchten. Aber es war nichts passiert. Em fragte sich langsam, ob sie die drei vielleicht allein durch ihre Willenskraft vertreiben konnte.
Sie betrachtete die Stapel von Büchern, Fotokopien und Karten, die sie von Drea ausgeliehen hatte, ihre gesammelte Auswahl unterschiedlichster und verwirrender Geschichten. Wie war es nur möglich, so viele Informationen zu haben, aber so wenig Antworten?
Sie begann, in ihrem Tagebuch zu blättern, zum wiederholten Mal einige der alten Einträge zu lesen. Vor ein paar Tagen hatte sie eine Liste mit allem, was sie über die Furien wusste, angefertigt. Sie hatte noch einmal den Ablauf der Ereignisse nachgezeichnet, um herauszufinden, wann und warum die Furien plötzlich aufgetaucht waren. Diese Woche war sie zur örtlichen Bibliothek gegangen und hatte versucht, Belege für Skylars Geschichte von den drei Schwestern, die im Verwunschenen Wald verbrannt waren, zu finden. Auf alten Mikrofiches war sie auf die Erwähnung eines Feuers im frühen achtzehnten Jahrhundert gestoßen, das von Stadtbewohnern gelegt worden war und in dem drei »in Verruf« geratene Frauen aus dem Ort gestorben waren. Sie hatte in Erwägung gezogen, mit Skylars Tante zu sprechen, um noch mehr über diesen Teil von Ascensions Vergangenheit herauszufinden. Aber sie hatte sich dann doch davor gehütet, tiefer zu graben. Der kleinste Ausrutscher konnte die Furien noch mehr aufbringen. Schon als sie bei JD nur beinahe etwas darüber ausgeplaudert hatte, was in jener Nacht im Shopping-Monster passiert war, waren sie zurückgekehrt, um Em mit einer bösen Racheaktion zu quälen. Sie durfte nicht auch noch andere in Gefahr bringen. Sie musste das alleine angehen.
Das letzte Mal, als sie menschliche Gestalt angenommen hatten, hatte es die Furien nach Ascension gezogen, um Chase zu bestrafen. Aber war er der Erste gewesen? Und was hatte sie auf den Plan gerufen, um gerade an ihm Rache zu üben? Es hatte vor ihm mit Sicherheit noch andere Sünder in Ascension gegeben. Ems Wissenslücke erstreckte sich über Jahrhunderte, vom Ursprung der Rachegöttinnen bis hin zu ihrer aktuellen Anwesenheit in der Stadt. Warum waren sie gerade jetzt zurückgekehrt? Auf wessen Geheiß? Und wie konnte man sie dazu bringen, wieder zu verschwinden?
Mit einem Stöhnen beugte Em sich an ihrem Schreibtisch nach vorn und legte den Kopf auf die Arme. Sie war müde, aber ihr war nicht nach Schlafen. Also setzte sie sich wieder aufrecht hin, nahm ihr Tagebuch und einen Stift und begann zu schreiben.
Das Gedicht entstand schnell. Bilder und Empfindungen – Schnee, Haut, das Licht hinter JDs Fenster, die Worte, die auf ihr Auto gekritzelt waren, das Gefühl, in einem Teufelskreis gefangen zu sein, grausam und ungerecht –, all das wirbelte durcheinander, um anschließend auf dem Papier zu landen. Sie wusste, dass es gut war.
Sie gab ihm den Titel »Die Schönste«.
Danach fühlte sie sich ein wenig besser. Doch irgendetwas ließ ihr noch immer keine Ruhe. Irgendein Puzzleteil fehlte und sie musste es finden.
Als sie das Tagebuch gerade schließen wollte, fiel ihr eine Telefonnummer ins Auge – Crows. Wie durch einen Geistesblitz erinnerte sie sich plötzlich daran, dass JD ihr in der Neunten mal von einem brillanten Nichtstuer in seinem Computerkurs erzählt hatte. Das war Crow gewesen.
Em starrte einen Moment lang auf die Nummer, sinnierte
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