Im Herzen des Kometen
Erholung macht gute Fortschritte, und bald wirst du an die Arbeit müssen, auf Befehl Seiner Herrlichkeit, des Kapitäns Osborn.«
Virginia schaute ihn fragend an. »K-kapitän…?«
Saul nickte. »Kapitänleutnant, eigentlich. Ernennung von der Erde. Sie mußten. Nur zwei Offiziere waren noch am Leben, und sie zählen kaum. Calciano ist nach zehnjähriger Wache, während der er die Überzeugung gewonnen zu haben schien, er sei der Fliegende Holländer, im Kühlfach. Ould-Harrad hat seinen Auftrag zurückgegeben und sich den Revisionisten vom Sonnenkreis angeschlossen, drüben im Höllenpfuhl…«
Er bemerkte ihren verwirrten Ausdruck und drückte ihr die Hand.
»Es ist eine andere Welt, Virginia. Vieles hat sich geändert. Daheim auf Erden sind die Verhältnisse undurchsichtig. Und hier draußen… nun…« Er hob die Schultern. »Hier draußen sind sie einfach unheimlich.«
»Aber Carl…?« Sie machte Anstalten, sich zu erheben, aber er drückte sie sanft auf das Kissen zurück. Selbst die Schwereverhältnisse des Kometen waren für sie eine Last.
»Genug geredet. Jetzt mußt du ruhen. Später werde ich dir erklären, was ich entdecken konnte. Wir werden versuchen müssen, in dieser seltsamen neuen Welt einen Platz für uns zu finden.«
Virginia entspannte sich.
Wir… dachte sie, und ihr gefiel, wie das Wort in seinem Munde klang. »Ja, das werden wir.«
Sie war im Begriff, wieder einzuschlafen, als sie spürte, wie Saul ihr sacht seine Hand entzog. Virginia blickte auf und sah, daß er ein Taschentuch hervorgezogen hatte und mit gerümpfter Nase erwartungsvoll ins Leere blinzelte. Dieser Zustand endete damit, daß er plötzlich die Nase ins hastig hochgerissene Taschentuch steckte und ein heftiges Niesen hören ließ.
Virginia lachte leise. Sie streckte den bleiernen Arm aus und berührte eine Träne, die über seine faltige Wange rann.
»Ach, du Armer«, seufzte sie. »Erst ein paar Tage aus dem Kühlfach, und schon fängt es wieder an!«
Er schaute sie einfältig an, dann mußte er lächeln.
»Warum nicht? Wenn alles andere neu ist?«
4
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SAUL
Alle schienen zu sterben.
Je mehr Saul über diese alternde Kolonie erfuhr, desto rätselhafter schien es ihm, daß überhaupt noch jemand lebte.
Die Menschen hatten sich angepaßt, hatten Mittel und Wege gefunden, sich in den bestehenden Verhältnissen einzurichten. Darin waren sie gut. Seit jener Zeit vor dreißig Jahren, als Akio Matsudo mit sanfter Entschlossenheit dafür gesorgt hatte, daß Saul ins Kühlfach gekommen war, waren die Werkzeuge, die er zurückgelassen hatte, ergänzt und verbessert worden.
Aber die modifizierten Cyanuten, die Mikrowellenstrahler mit Feineinstellung, all ihre klugen Maßnahmen konnten den langsamen Erosionsprozeß, die absinkende Spirale nur verlangsamen. Auch das einheimische Leben war anpassungsfähig, und hier zu Hause. Es war ein Zermürbungskrieg, den der Mensch nur verlieren konnte.
Ich hätte wissen sollen, dachte Saul in der kühlen Stille des Kühlfachkomplexes 1, daß Akio seinen eigenen Rat kaum beherzigen würde. Es war ein Fehler gewesen, so frühzeitig nach der eigenen Wiedererweckung hierherzukommen und’ die Namen alter Freunde zu lesen. Hier erst war ihm mit einem Schock deutlich geworden, daß drei Jahrzehnte verstrichen waren.
Bis jetzt war seine letzte Erinnerung an den japanischen Arzt die eines noch jüngeren Mannes mit glattem schwarzem Haar und einer Nickelbrille gewesen, hinter der kluge, lächelnde Mandelaugen hervorspähten. Aber dieses Erinnerungsbild – so frisch, als wäre es letzte Woche gewesen – wurde hier unten zwischen den gekühlten Särgen auf eine beklemmende Weise zerstört. Akios am Kühlfachdeckel angebrachte Personalkarte zeigte ihm das Gesicht eines Mannes, den er kaum wiedererkannte.
Ein dünner Saum grauer Strähnen umrahmte eine Glatze, die mit Altersflecken gesprenkelt war und die Narben ausgeheilter Hautinfektionen trug. Die einst rundlichen Wangen waren hohl, die gefurchten Züge verrieten die Erschöpfung eines Mannes, der im Kampf gegen das Unvermeidliche, das Erbarmungslose alt geworden war. Und in den Augen war keine Andeutung von Lachen mehr.
Die Personalkarten an jedem Kühlfachdeckel erzählten stichwortartig die Geschichte jedes hibernierenden Benutzers. Rote Kennzeichen bedeuteten, daß medizinische Gründe Anlaß zur Einschläferung gegeben hatten, schwarze zeigten Verwahrung ohne wirkliche Hoffnung auf Wiederbelebung und Heilung an, und
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