Im Herzen Des Lichts
Mann in einem Umhang aus vielen Stoff lagen herab - doch wo ein normaler Sterblicher die Augen hatte, glühten zwei rote, verräterische Funken. Sie stieß den Atem aus.
»Enas Yorl!« rief sie.
Ihre Stimme weckte Klikitach. Sofort schwang er die Beine auf den Fußboden, der mit weichen Pelzen bedeckt war. Er schaute sich nach seinem Schwert um, doch das war ebensowenig zu sehen wie seine Kleidung. Er vermutete in dem unbekannten Jüngling einen Rivalen oder sonst jemanden, der sie festhielt, das machte ihn hellwach, und er ging mit den Fäusten auf den Fremden los.
Das heißt, er wollte es. Als er den Fuß ein zweites Mal aufsetzte, wurde seine Bewegung unendlich langsam, als müsse er in starker Strömung flußaufwärts waten. Mit größter Anstrengung gelang ihm ein dritter Schritt, doch das war auch schon alles. Er stand schließlich völlig still, in lächerlicher Haltung auf dem linken Bein, hatte den Mund aufgerissen, das Gesicht zu einer Maske hilfloser Wut verzerrt.
Jarveena wußte genau, wie er sich fühlte. Bei ihrem ersten, unfreiwilligen Besuch im Palast des Magiers war sie genauso erstarrt festgehalten worden. Dieser von Basilisken bewachte Palast lag an und unter der Prytanisstraße im Südosten der Tempelallee.
Außer natürlich, wenn er anderswo war.
Sie benetzte die Lippen, denn selbst noch nach so vielen Jahren empfand sie in Enas Yorls Gegenwart eine Mischung aus Angst und Ehrfurcht, schon gar nackt wie jetzt - >und wehrlos<.
»Manchmal frage ich mich, weshalb Ihr Basilisken haltet, wenn Ihr diesen Zauber doch selbst durchführt. Macht man nicht Witze über den Mann, der sich einen Hund hielt und selbst bellte?«
»Wer sagt dir, daß nicht etwas von einem Basilisken in mir ist?« entgegnete der scheinbare Jüngling spöttisch. »Wieder einmal: willkommen in Freistatt, Jarveena. Ihr wurdet von Melilot dem Geizhals gestern abend fürstlich bewirtet. Der Geschmack der gebratenen Enten muß köstlich gewesen sein!«
Während des Sprechens veränderte sich sein Gesicht allmählich; vor allem seine Brauenwülste verdickten sich, und seine Schultern wurden krumm. Jarveena wußte, was eine so schnelle Veränderung bedeutete.
»Ihr habt Euch mit beachtlichem Zauber beschäftigt«, stellte sie fest. »Wart Ihr wahrhaftig einer der Schatten, die sich im Speisegemach des Dicken vergnügten?«
Er nickte.
»Konntet Ihr es nicht erwarten, mich wiederzusehen? Wolltet Ihr feststellen, ob ich mir neue Narben geholt habe und so noch mehr Arbeit für Euch hätte?«
Aber diese Spötteleien sollten nur ihre Nervosität vertuschen. Allerdings achtete Enas Yorl ohnedies nicht darauf. Er musterte Klikitach stirnrunzelnd. Schließlich berührte er dessen Schläfen flüchtig mit den Zeigefingern.
Dann sagte er: »Ich habe seine Geschichte gehört, als du sie gestern abend erzählt hast. Nun kann ich dir eine außerordentlich seltsame Tatsache bestätigen: Er glaubt aus tiefster Seele, daß der Fluch, der ihm das Dasein zur Hölle macht, ungerecht ist. Aber in den Jahrhunderten meines Lebens habe ich gelesen, gehört und weiß aus Erfahrung, daß einen Unschuldigen mit einem so mächtigen und dauerhaften Fluch zu bedenken, wenn schon nicht verboten, so doch selbstzerstörerisch ist, da er sich wieder gegen den wenden wird, der ihn bewirkt hat. Das sagen alle, die etwas davon verstehen.«
»Könnte es in früherer Zeit nicht Ausnahmen gegeben haben?« gab Jarveena zu bedenken. »Könnte es nicht uralte Mächte gegeben haben, die inzwischen längst in Vergessenheit gerieten?«
»Wie wäre das möglich, immerhin schleppt Klikitach sich seit tausend Jahren unentwegt von Hexer zu Zauberer zu Magier, erzählt ihnen seine Geschichte und fleht sie an, ihn von dem schrecklichen Fluch zu befreien! Da steckt mehr dahinter, als das innere Auge wahrzunehmen vermag. Komm, beginnen wir den Tag mit etwas zu essen.«
Essen war nicht das, was sie üblicherweise als erstes tat, wenn sie den Zauberer besuchte. Sie war verwundert über die Änderung, doch nicht sonderlich enttäuscht, und schrieb sie seinem Widerstreben zu, sie in Anwesenheit eines dritten zu lieben - obwohl sie überzeugt war, daß er Klikitach Raum und Zeit gegenüber blind und taub gemacht hatte.
Doch tief im Innern wußte sie, es lag daran, daß er viel mehr an dem Fremden interessiert war als an ihr.
Enas Yorl drehte sich um, machte eine Geste, und das ferne Ende des riesigen Saales kam gehorsam näher. Eine Tafel war gedeckt mit Brot und Früchten und
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