Im Herzen Rein
zurückgekommen war.
Damals war sie eingeladen worden, um einen Vortrag über polizeiliche und zivile Strukturen in Krisengebieten zu halten. Man hatte ihr dann auch angeboten, sich an der Schulung weiblicher Polizeikräfte im Libanon praktisch zu beteiligen, aber das hatte sie ausgeschlagen.
Beim Durchblättern des Programms hatte sie ein Foto von Jonas Schumann gesehen, der als Arzt für Ärzte der Welt über Unterernährung und Kindersterblichkeit referierte. Er war die große Liebe ihrer Kindheit gewesen, und nun war er ein attraktiver Mann geworden. Wie früher hatte er blondes, volles Haar, sorglos gekämmt. Wenn er sprach, unterstrich er manches mit geschmeidigen Bewegungen, und seine Körpersprache machte das glaubhaft, was er berichtete.
Er schilderte Erlebnisse, die er auf den Philippinen gehabt hatte, wo Kinder an Masern oder Tetanus starben, erzählte von unterernährten Säuglingen in Bangladesch und schwer schuftenden Kindern in Schwarzafrika, die nicht älter waren als zehn. »Wir dürfen diese Kinder nicht vergessen, müssen ihnen in ihren Nöten helfen. Kinder geben der Welt eine eigene Energie, die wir brauchen«, hatte er gesagt und großen Applaus dafür bekommen.
Inzwischen saß er in der Leitung der Organisation und traf sicherlich kaum noch Kinder oder Kranke, sondern führende Politiker und die Sprecher großer Konzerne, um sie für Spenden und Projekte zu gewinnen.
Natürlich hatte sie ihn damals in Würzburg nach dem Vortrag angesprochen. Er hatte sich den Abend freigemacht, sie waren zusammen in eine gemütliche Weinstube gefahren und hatten die Erlebnisse aus ihrer Kindheit aufgefrischt. Dennoch war eine Distanz zwischen ihnen geblieben, und sie war zu scheu gewesen, ihm zu gestehen, dass nur er für sie unter den Jungs gezählt hatte. Er war zwei Klassen über ihr gewesen - warum hatte er eines Tages in ihrem Unterricht neben ihr gesessen? Wie ein Traum war diese eine Schulstunde für sie gewesen, an der er völlig überraschend teilgenommen hatte. Ihre linke Wange glühte förmlich, so deutlich konnte sie ihn neben sich spüren. Vergeblich hatte sie versucht, sich auf das vor ihr liegende Blatt mit den Matheaufgaben zu konzentrieren. Ihre Gedanken wollten nicht gehorchen, sie wanderten von dem Stoff immer zu ihm. Ohne den Kopf zu heben, spürte sie, dass er sie ansah. Das Blut strömte ihr heiß durch die Adern. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, und kaute verlegen auf dem Band ihres Kapuzenshirts. Wieder versuchte sie, ihre Aufmerksamkeit auf den Aufgabenzettel zu richten. Sie kannte den Lösungsweg für die Aufgabe, aber sie konnte ihn nicht anwenden. Nicht, solange dieser Junge so dicht neben ihr saß, dass sie seinen Duft riechen konnte. Nervös strich sie sich durch ihre Locken und warf ihm dabei einen verstohlenen Blick zu. Als sich ihre Blicke für einen kurzen Wimpernschlag trafen, tat ihr Herz einen Sprung. Er sah sie an!
Mag er mich auch?
Er war anders als die Jungen in ihrer Klasse. Unter den dunklen Augenbrauen ruhten ein Paar blaugrüne, wache Augen, umrahmt von dichten, seidigen Wimpern. Wie bei Alain Delon auf dem Filmplakat, wo er Romy Schneider einen zarten Kuss auf die Stirn haucht. Das Bild hatte sie in der Schulbibliothek heimlich aus einem Buch über Die schönsten Filmküsse herausgetrennt. Nun hing es in ihrem Zimmer zwischen den Fotos von ihrer Katze.
Sie hatte Jonas als Messdiener in der Kirche entdeckt und war vor allem seinetwegen hingegangen. Jonas’ Mutter war Haushälterin bei dem Gemeindepfarrer.
Paulas Schwester Sandra hasste die Kirchgänge, aber sie war sonntags immer schon als Erste fertig angezogen und gekämmt.
Und dann stand plötzlich die Lehrerin neben ihr. Sie hatte sie nicht in die Klasse zurückkommen sehen. Sie sammelte die Arbeiten ein, aber Paula hatte nichts auf ihrem Blatt.
»Abgeben, Paula!«
Fassungslos sah sie auf ihren Aufgabenzettel. Da stand nichts.
»Gib ab, Paula, die Zeit ist vorbei«, wiederholte Frau Mundner.
»Aber ich …«
»Kein Aber.« Sie griff nach Paulas Heft und ging zurück zu ihrem Schreibtisch.
Die Mädchen hinter ihr kicherten albern und flüsterten. Nun begannen auch noch die Jungen, die Köpfe zu recken und in ihre Richtung zu feixen.
Was haben die denn?
Als sie an sich herabsah, entdeckte sie zu ihrem Entsetzen den Grund. Ein Knopf ihrer Bluse war offen, und der oberste fehlte. Sie hörte, wie Hotte Maier »Muh« machte, und alle lachten.
Die Schulklingel erlöste sie. Sie griff nach ihrem
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