Im Herzen Rein
zugeschnitten und die Spitze scharf geschliffen. Alles, ohne Spuren zu hinterlassen.
Blieb noch die Frage, ob der Täter Silvia Arndt gekannt hatte oder nicht. Besucht hatte er sie jedenfalls nicht - laut Spurenermittlung -, und die Hausbewohner hatten auch keine Besucher gesehen. Sie kannten Silvia Arndt nur von flüchtigen Begegnungen im Treppenhaus oder Fahrstuhl, und da war sie immer allein.
In ihrem Computer waren ebenfalls kaum Adressen oder Personen zu finden, mit denen sie in der letzten Zeit Kontakt gehabt haben könnte. Aus der Telefonrechnung ging hervor, dass sie mit niemandem telefoniert hatte, außer mit einem Reisebüro. Waldi war sofort hingefahren. Silvia Arndt hatte sich nach der Blumeninsel Madeira erkundigt, aber nicht gebucht.
Außerdem hatte Paula gestern noch das Gespräch mit dem Angler gehabt, der auf einem der Tatortfotos zu sehen war. Tommi und Max hatten ihn morgens wieder am gegenüberliegenden Ufer angetroffen. Er kam dann um elf ins Büro, weil er immer von fünf bis zehn angelte. Der fünfundsechzigjährige Rentner Kurt Ettee - ein Hugenotte, wie er betonte -, wurde in Moabit geboren. Sein Großvater und sein Vater hatten schon in der Spree geangelt und ihn als Buben mitgenommen.
Ettee erzählte, dass man sich beim Angeln konzentrieren müsse und ringsherum nichts wahrnehme. Angeln sei eine Fisch jagd . »Da hält man nicht nur die Schnur ins Wasser und wartet«, sagte er, empört darüber, wie sich Laien das Angeln immer vorstellten. »Man muss die Tiefe des Wassers ausloten, um die Schnur mit dem Köder auf die richtige Länge einzurichten: gekochte Kartoffeln oder Brötchenteig für Friedfische wie Schleie und Regenwürmer für Raubfische wie Barsche. Die Köder müssen ständig erneuert werden, damit die Fische den Haken nicht entdecken. Und die Pose muss man immer im Blick haben, sonst verpasst man, wenn ein Fisch beißt. Dann braucht man sich gar nicht erst hinzusetzen. Ich lege immer drei Angeln aus und habe damit viel zu tun.«
Paula hatte sich alles ruhig angehört. Als er fertig war, schwieg sie, bis die Ruhe ihn nervös machte. Sie dachte, ein Angler würde das lange aushalten, weil das stille Sitzen sein Element war. Aber Ettee rückte unruhig hin und her und sagte dann: »Kurz nach dem Auswerfen der ersten Angel habe ich am anderen Ufer einen Krankenpfleger gesehen.«
»Woran haben sie den erkannt?«, fragte sie.
»Er hat einen Rollstuhl geschoben.«
»Und woran konnte man erkennen, dass er Krankenpfleger war?«
»Am Rollstuhl.«
»Und wohin hat er den Rollstuhl geschoben?«
»Zu der Bank drüben.«
»Und dann?«
»Er setzte die Frau auf die Bank und ging mit dem Rollstuhl weg.«
»Die Gelähmte war eine Frau?«
»Sie hatte ein blaues Kleid an.«
»Und was machte der Krankenpfleger dann?«
»Er ging wieder zurück.«
»Zur Lutherbrücke? Nach links von Ihnen aus?«
Ettee nickte. Er nahm seine graue Schiebermütze ab, kratzte sich am Kopf und setzte sie wieder auf.
Paula hatte noch versucht herauszubekommen, was der »Krankenpfleger« anhatte, wie lange die Frau auf der Parkbank gesessen und was sie getan hatte. Aber es war nichts weiter zu erfahren. Ettee hatte an dem Morgen früher aufgehört zu angeln als sonst, weil er zum Arzt musste. Es war schwer einzuschätzen, ob er tatsächlich nicht mehr gesehen hatte oder nicht mehr gesehen haben wollte. Er sah aus, als ob er zu den Leuten gehörte, die nichts äußern, was ihnen Scherereien bringen könnte. Sie beschloss, ihn in den nächsten Tagen morgens beim Angeln zu beobachten und selbst zu sehen, wie viel man von seiner Position aus erkennen konnte.
Immerhin wusste sie nun, dass Professor Posch mit dem Rollstuhl recht gehabt hatte. Sie hatte das Team angewiesen, weiter nachzuforschen, ob sich jemand finden lasse, der gegen fünf in der Nähe der Lutherbrücke etwas Auffälliges beobachtet hatte. Reine Routine, aber vielleicht würde dabei etwas herauskommen.
Als sie im Gericht die Treppe zu Chris’ Büro hinaufging, freute sie sich, dass sie in der Keithstraße arbeitete und nicht hier. Dieser gotische Bau mit seinen breiten Treppen in drei Richtungen und den Emporen mit den Spitzgiebeln war ihr zu bombastisch. Das hohe, sakral wirkende Gebäude strahlte eine Autorität aus, die jeden Besucher zu einem kleinen Menschen schrumpfen ließ.
Sie klopfte an Chris’ Bürotür und trat gleich ein.
Das Büro war groß. Neben dem wuchtigen Schreibtisch, auf dem etliche Akten lagen, gab es eine Sitzecke
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