Im Herzen Rein
Respekt vor dem Alltag hatte sie zu leben. Chris war da anders, sie bewunderte alles, was herausragte, und strebte selbst danach. So war sie in ihren Beziehungen mit Männern, in ihrer Kleidung, ihrem Auftreten, und so war sie auch in ihrem Beruf, wie Paula immer mehr begriff.
Paula saß kerzengerade auf der Stuhlkante, bereit, jederzeit zu gehen, und sah auf die Uhr, während Bach vor sich die Tatortfotos ausbreitete.
»Kein normaler Täter würde die Tat so vorbereiten«, murmelte er.
Kein Täter ist normal, regte sich Paula innerlich auf.
Bach schob die Fotos in eine Reihe und murmelte weiter: »Er hat es selbst getan.«
Paula hatte schon gehen wollen, nun wollte sie aber doch wissen, worauf er anspielte.
»Was hat er selbst getan?«, fragte sie.
»Er hat die Tauben gefangen, sie getötet und präpariert. Sie sehen - kommen Sie doch bitte einmal herum.«
Paula ging um den Schreibtisch und sah ihm über die Schulter.
»Hier. Sie sehen, dass die Vögel in unterschiedlichen Bewegungsmomenten erstarrt sind. Wenn man die Fotos so nebeneinanderlegt, sieht es aus wie der Anflug einer Taube in Einzelbildern: hier mit flatternden Flügeln und vorgestreckten Krallen zur Landung, dort die ersten Schritte, dann ein Plustern und schließlich das Vorstrecken des Köpfchens, um etwas zu picken.«
Paula sah es jetzt auch: Die Posen der fünf Vögel passten in die Bewegungsabfolge einer Taube im Anflug.
»Er hat seine Opfertiere in diese Positionen gezwängt«, Bach tippte auf die einzelnen Fotos, »vielleicht mithilfe vorgeformter Drahtkorsetts, und hat sie erstochen - vielleicht mit einer Nadel ins Herz. Wie die Frau. Fragen Sie den Gerichtsmediziner, ob sich bei den Tauben in der Haut über dem Herzen ein Stich findet.«
Paula ging zu ihrem Stuhl zurück, blieb aber stehen. »Wie kommen Sie darauf, dass er es so gemacht hat?« Langsam fragte sie sich, weshalb sie ihm überhaupt so geduldig zuhörte.
»Er hat nicht zum ersten Mal getötet. Bisher aber nur Tiere.«
»Und wie kommen Sie darauf?«, fragte sie weiter - gleich würde sie ihn haben.
»Wer eine so kunstvolle Inszenierung mit einer so unverwechselbaren Handschrift durchführt, ohne Spuren zu hinterlassen, hat dies nicht zum ersten Mal getan. Wenn Menschen als Übungsobjekte ausscheiden - und davon hätten wir erfahren -, müssen es Tiere gewesen sein. Zum Beispiel Tauben.«
Paula holte Luft. »Irrtum, Herr Professor. Diese Tauben waren keine Übungsobjekte für den Tod der Frau. Der Mörder hat die Tauben nicht erstochen und in der gewünschten Form erstarren lassen. Er hat sie getötet, wahrscheinlich vergiftet, aufgeschnitten und ausgenommen und sie dann wie eine Socke umgestülpt, um das Fett sorgfältig von der Innenhaut abzuschaben und sie zu waschen. Anschließend hat er einen neuen Innenkörper aus Styropor geformt und ihm die Haut mit dem Gefieder übergezogen, wieder nach dem Socken-Umstülp-Prinzip, diesmal in umgekehrter Richtung. Etwas anderes hat er an diesen Tauben nicht geübt.«
Während Paulas Ausführung hatte Bach seine Sachen zusammengeschoben und in die Ledertasche gepackt. »Tut mir leid, Chris, aber ich habe in zwanzig Minuten eine Verabredung und muss los.«
Aha, dachte Paula, jetzt fallen seine aufgeblasenen Thesen in sich zusammen.
Er gab ihr die Hand und sagte: »Ich frage mich, ob das Kleid auch Teil der Inszenierung war. Sind Sie sicher, dass das blaue Kleid der Toten gehörte?«
Paula reagierte nicht auf diese Frage.
In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Er wird seinem Gott ein zweites Opfer bringen.«
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, setzte sich Paula, wobei sie abwehrend die Hände hob. »So kann man einen Fall nicht angehen. Nur heiße Luft. Dieser Kerl verwirrt dich. Das lasse ich nicht zu. Und ich lasse mich auch nicht davon abbringen, Fakten zu ermitteln. Er hat doch selbst gesagt, die meisten sind nur auf Karriere aus und nicht auf Kompetenz. Er ist der Typ des ehrgeizigen Bluffers.«
Chris hatte der bisherige Verlauf des Gesprächs nicht gefallen, das war Paula schon während der Unterredung klar geworden, aber darauf durfte sie keine Rücksicht nehmen.
Chris sah sie mit leerem Blick an. »Befanden sich eigentlich am Kaffeebecher Spuren?«
Paula schüttelte den Kopf. »Keine Fingerabdrücke, kein Speichel. Aber der Becher ist vorher benutzt worden. Im Sand waren Kaffeereste. Er ist sicher von spielenden Kindern auf die Bank gestellt worden.«
Chris erhob sich müde und nahm hinter ihrem
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