Im Herzen Rein
rief Tommi seine plötzliche Erkenntnis dazwischen.
»Nein, das Paar ist nicht tot. Es war nie lebendig. Es ist ein Kunstwerk. Genauso wie die Frau mit dem Supermarktwagen. Der Künstler hat Menschen maßstabsgetreu aus Glasfiber und Polyesterharz gegossen und detailgenau modelliert, mit jeder Hautfalte und jeder Sommersprosse. Die Kleidung ist echt, das Haar ist echt und die Accessoires sind es auch. Er hat äußerst realistische Alltagssituationen geschaffen. Selbst in Kunstausstellungen hielten die Besucher sie oft für echt. Ich kann auch ein eigenes Erlebnis hinzufügen. Vorige Woche folgte ich einer Einladung in das Haus eines Kunstsammlers im Grunewald. In der Eingangshalle stand ein Bodyguard. Meine Bekannte grüßte ihn, ich schmunzelte schon, und sie beklagte sich, dass er nicht zurückgegrüßt hatte. Sie ahnen es: Der Bodyguard war ein Kunstwerk. Er sah so echt aus, dass man dachte, gleich bewegt er sich. Ich will damit sagen, unsere Leichen sind ebenso kunstvoll bearbeitet worden wie diese lebensechten Skulpturen.«
Alle betrachteten noch einmal die Fotos und gaben ihm recht.
»Sie stimmen mir also zu, dass unsere toten Frauen mehr Ähnlichkeit mit diesen Kunstwerken haben als mit normalen Leichen?«
»Ganz klar«, sagte Tommi. Er zog aus dem Buch ein Foto, das wohl als Lesezeichen gedacht war. »Sie haben hier noch ein Foto - von einer Hinrichtung durch Erhängen. Ist das in den USA?«
»Nein. Kanada, Toronto.«
»2004 steht drunter«, sagte Tommi.
Justus schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. In Kanada wurde die Todesstrafe 1976 abgeschafft.«
»Ganz recht«, stimmte Bach zu. »Es ist aber keine Hinrichtung - auch wenn es genau so aussieht. Es ist ebenfalls ein Kunstwerk. Die kanadische Künstlerin Sarah Sarendon nennt es provozierend Glücksfall . Gerade heute machen Künstler Furore mit erschreckend realistischen Darstellungen von Menschen. Es gibt noch einen australischen Künstler, dessen Figuren aus Silikon ebenfalls lebendig zu sein scheinen. Ihre Haut hat Poren, Rötungen und Äderchen, sie haben echte Haare, sogar Härchen in der Nase, Finger- und Zehennägel.«
Marius hob die Hand: »Für mich ist die exakt naturalistische Nachbildung von Menschen reines Handwerk. Das ist doch keine Kunst.«
Bach lächelte. »Niemand kann heute sagen, was Kunst ist. Niemals sind die Vorstellungen davon so diffus gewesen wie heute. Was heute Kunst ist, bestimmen die Märkte, aber wir wissen nicht, aufgrund welcher Gesetze. Eines scheint klar: Wenn jemand behauptet, etwas von ihm Präsentiertes sei Kunst, und er schafft es, weltweite Aufmerksamkeit zu erreichen, dann ist ihm das Entree in die heiligen Hallen gelungen. Nachdem Kunst im Lauf der Geschichte alle formalen Fesseln gesprengt hat, thematisch in die tiefsten Niederungen gestiegen ist, und die griechische Vorstellung von Schönheit sich ins Gegenteil verkehrt hat, gibt es nichts Neues mehr. Und für Künstler ist jetzt das zentrale Problem, wahrgenommen zu werden. Der Künstler muss provozieren. Und die stärkste Provokation ist der Tabubruch. Was waren Tabuverletzungen in der Kunst? Der erste Geschlechtsakt vor einem Kunstforum, Tierschlachtungen in Kunsthallen, Halbieren von echten Kühen, die in durchsichtiges Plastik eingegossen und ausgestellt wurden, Darstellungen von Sadismus, sich steigernde Perversionen. Im Internet gab es einen vorgeführten Suizid. Ein Künstler kaufte den Filmstreifen für eine Installation in der Tate-Galerie. Diese Spektakel machen weltberühmt. Vor zwei Jahren gab es in den Kunsthallen die Ausstellung echter Leichen. Ohne Gesetzesbruch, ohne vorausgegangene Morde; sie waren gekauft worden. Der Künstler hat sie artifiziell bearbeitet und mit abgezogener Haut, gefärbten Muskelsträngen und Innereien ausgestellt. Die Menschen stürmten die Ausstellung. Deswegen blieb sie Tag und Nacht geöffnet. Das hatte es noch nie gegeben. Der Magnet waren die echten Leichen. Bisher gab es Plastiken, die wie echte Menschen aussehen, jetzt gab es zum ersten Mal Leichen, die als Plastiken hergerichtet waren. Eine Steigerung dieser Schock-Ästhetik gibt es nur durch Gesetzesbruch. Und der ultimative Gesetzesbruch ist Mord.«
Schweigen. »Den Mord zu einem Kunstwerk zu machen würde alles Bisherige übertreffen.« Er hielt inne.
»Wenn wir uns darauf einlassen und die Frau im blauen Kleid als Kunstwerk betrachten, was für ein Künstler könnte es dann sein?«, fragte Paula.
»Jemand, dessen Ehrgeiz pathologisch ist und
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