Im Herzen Rein
verspannten Schultermuskeln gelockert.
»Nein.«
»Ihr habt bestimmt Hinweise aus der Bevölkerung erhalten, oder?«
»Ja. Massenhaft.«
»Der Typ hat ja ziemlich Glück gehabt, dass ihn im Kino keiner erkannt hat. Bringt die Tote im Rollstuhl dahin. Das ist doch auffällig.«
»Sollte man meinen.«
»War es Eine Sommernacht ?«
»Ja.«
»Ich habe zufällig denselben Film gesehen. Auch im Filmpalast. Ist nur ein paar Schritte von meinem Hotel entfernt.«
Paula streckte sich ein bisschen. »Wenn du eine Aussage machen willst, dann unter der im Fernsehen angegebenen Nummer.« Sie hatte keine Lust, jetzt auch noch mit ihm über den Fall zu reden. Sie war enttäuscht über diese Wendung.
Er lachte über ihre Bemerkung wie über einen Witz und erzählte, wann er in den Film gegangen war.
Wieso begriff er nicht, dass sie das gar nicht interessierte? Sie war neugierig auf ihn; aber nicht auf seine Kommentare über die Taubenfrau oder die Frau im Kino, wie sie in den Medien genannt wurden.
Warum hatte sie sich doch noch darauf eingelassen, ihn zu treffen? Sehnsucht nach der Kindheit? Wartete sie auf eine nachgereichte Liebeserklärung? Sie erinnerte sich, wie oft sie gehofft hatte, dass der uneheliche Sohn von Henriette Schumann ihr sagen würde: Ich habe mich in dich verliebt, Paula, ich möchte mit dir gehen. Aber das passierte nicht. Er hatte nicht einmal gesagt, Paula, ich finde dich nett , oder Paula, du bist hübsch , wie es andere getan hatten. Manchmal hatte er ihr bei etwas geholfen, danach war er aber wieder verschwunden.
Während sie so tat, als hörte sie ihm zu, als er von dem Film erzählte, dachte sie an einen Spätsommernachmittag bei ihrer Freundin Hella. Damals war sie zwölf. Sie trug Sandalen an den nackten Füßen und hatte ihren roten Schirm dabei, weil es nach Regen aussah. Hella hatte sie überredet, mit ihr in den Eissalon am Marktplatz zu gehen. Arno, der Schäferhund, sollte nicht mit, aber er wollte unbedingt, bellte und sprang immerzu an ihr hoch. Hella pfiff ihn nicht zurück, und Paula war aufs sichere Trampolin im Garten geklettert. Sie sprang vor Angst mit wild rudernden Armen in die Luft, übertrieb es und landete auf dem Rasen. Arno war die ganze Zeit bellend drum herumgetobt und biss ihr jetzt in den großen Zeh. Sie weinte und schrie, Hella sei nicht mehr ihre Freundin. Ihr Schreck war größer als die Wunde, auf die Hellas Mutter ein Pflaster klebte. Zu Hause machte sie weiter das große Theater, weil sie meinte, eine Blutvergiftung zu haben. Schließlich rief ihre Mutter bei Frau Dr. Sperling an und vereinbarte, dass Paula gleich in die Praxis käme. Auf dem Weg dorthin begegnete sie zwei frechen Zigeunerjungen von den Kirmesleuten, die einen schwarz-weiß gefleckten Bullterrier an der Leine hatten, der völlig ausrastete, als Paula auf der anderen Straßenseite vorbeischleichen wollte. Er zerrte so stark, dass er die beiden Jungs hinter sich herzog und fletschend immer näher kam. Der knurrende Hund war ihr schließlich so nahe, dass sie sich schon mit zerrissenen Beinen sah. Die Jungs grinsten gemein, zogen aber das schwarz-weiße Muskelpaket nicht weg. Sie war kurz vor einer Ohnmacht, als plötzlich Jonas neben den Bengeln stand. Er packte die Leine und zog sie kräftig zurück. Der Abstand zwischen ihr und dem Hund wurde größer. Die Jungen brüllten Jonas an, er solle verschwinden, sonst würden sie die Töle auf ihn loslassen. Aber da er größer war als sie, nahm er sie bei den Ohren und sagte etwas zu ihnen, das Paula nicht verstehen konnte. Da rannten sie mit dem Monster an der Leine davon.
Als sie weg waren, sah Jonas Paula an. Ihre Knie zitterten noch, und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Er nahm ihre Hand. Hoffentlich spürt er nicht, wie heiß sie wird, dachte sie. »Wohin willst du?«, fragte er mit seiner schönen Stimme.
»Zu Frau Dr. Sperling«, brachte sie knapp heraus.
Ohne ein Wort zu sagen, begleitete er sie zu der Ärztin und nahm im Wartezimmer neben ihr Platz, bis sie dran war. Sie stand unter Strom, aber nicht mehr wegen ihrer Angst vor einer Blutvergiftung. Viel zu schnell wurde sie in das Sprechzimmer gerufen. Frau Dr. Sperling beruhigte sie, dass der Biss nicht schlimm sei. Als Paula dann wieder ins Wartezimmer kam, sah sie nur leere Stühle, er war weg.
»War Pfarrer Mattes eigentlich wie ein Vater für dich?«
Er lachte.
»Wie kommst du da jetzt darauf?«
»Weiß ich auch nicht - fiel mir gerade ein.« Paula betrachtete den
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