Im Herzen Rein
Tiefe gewühlt. Eine Therapie habe ich bisher nicht gebraucht.«
»Hauptsache, man weiß, was man will, und hat dafür die entsprechende Kraft. Bist du mit deinem Fall weitergekommen?«
»Nicht wirklich. Man braucht immer viel Geduld und Durchhaltevermögen. Aber wir haben Chancen, weil der Täter anfängt, uns zu attackieren. Er setzt Zeichen, er droht, er rückt näher.«
»Bringst du dich da nicht in Gefahr?«
Sie dachte an Chris. »Manchmal schon. Große Fehler kann man sich nicht leisten.« Es war das falsche Thema, sie spürte wieder ihre Anspannung. Sie musste auf jeden Fall noch Chris anrufen und ihr von dem Vorfall im Guggenheim berichten. Sie wollte es aber nicht in Jonas’ Gegenwart tun. Ihr Handy hatte sie ausgeschaltet, doch jetzt wurde sie nervös.
»Es tut mir leid, ich muss gehen, Jonas.«
Er brachte sie zum Auto, wartete, bis sie eingestiegen war, und winkte ihr hinterher.
Zu Hause fand sie die Wohnung leer. Sie ging in die Küche, gab dem Kater etwas zu fressen und versuchte, Chris zu erreichen. Es waren aber nur Mailbox und Anrufbeantworter eingeschaltet. Sie hinterließ keine Nachricht. Die Frau im blauen Kleid war in aller Munde, jeder kannte sie, und der deftige Berliner Humor erfand bereits Anekdoten. Die Nachricht mit der Barbiepuppe könnte für Chris wie ein schlechter Witz rüberkommen und ihr den Schlaf rauben. Also bat sie sie lediglich um einen Rückruf morgen früh vor der Sitzung.
Mit Jonas’ Lächeln vor Augen schlief sie ein.
27
Um sechs in der Früh weckten Paula die Glocken von der Gethsemane-Kirche gegenüber. Sie hatte sich im Gästezimmer schlafen gelegt. Der schwierige Fall und dann noch Ralfs schlechte Laune gestern Nacht, da hatte sie lieber allein schlafen wollen. Sie liebte die Wohnung, hasste aber das frühe Gebimmel. Ralf hatte ihre Vorschläge, eine andere Wohnung zu suchen, immer gebremst. Morgens um sechs und abends um sechs läuteten die Glocken. Die alten Bewohner des Bezirkes liebten das, weil für sie die Kirche das Symbol ihrer Befreiung war. Immer wieder sprachen sie über den Oktober 1989, als der Pfarrer den Widerstandskämpfern Zuflucht im Gotteshaus geboten hatte. Tausend Bürger hatten dort bei einer Mahnwache campiert, umzingelt von der Volkspolizei. Im Schutz der Kirche und mithilfe des Telefons, was sonst in der DDR Mangelware war, hatten sie ein Zentrum des Widerstands geschaffen und damit entscheidend zur Öffnung der Mauer beigetragen. Ohne diese Bürgerbewegung hätte es keine Maueröffnung gegeben, und ohne Wiedervereinigung würde Paula nicht hier wohnen - und sich nicht über den Glockenlärm ärgern.
Sie zog die Decke über den Kopf, konnte aber nicht mehr einschlafen. Außerdem sprang Kasimir auf das Bett, tapste auf ihr herum und schnurrte. Sie schlug die Decke zurück und setzte sich auf die Bettkante, wobei der Kater einen Satz machte und ein Stück auf dem Dielenboden entlangrutschte. Er kam zurück und rieb sich wieder an ihren Beinen, das mochte er besonders und nutzte jede Gelegenheit dazu. Als sie schließlich aufstand, sprang er davon und tapste mit seinen samtenen Pfoten über die Holzdielen.
Paula reckte und streckte sich, machte die fünf Tibeter und ging ins Bad. Als sie unter der Dusche stand, fiel ihr Chris ein, wie sie unter der hellgrünen Plastikhaube Posch bei der Obduktion beobachtet hatte. Auf ihn hatte sie vermutlich kühl und stark gewirkt, so wie auf alle um sich herum, doch Paula kannte sie auch verletzlich.
Diese Verletzlichkeit entstand aus ihren Widersprüchen. Kühl und rational war sie einerseits, konnte sich zu Handlungen zwingen, bei denen jeder andere sich gesträubt hätte. Andererseits war sie eine leidenschaftliche Frau. Ab und zu eine Affäre zu haben reizte sie mehr, als den Alltag über Jahre hinweg mit demselben Mann zu verbringen. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, Hausfrau und Mutter zu sein. Sie brauchte die Bestätigung durch ihre Arbeit. Und sie bewunderte ihren Vater, von dem sie erzählt hatte, dass er gelegentlich eine Liebschaft hatte. Chris hatte Affären, war aber auch wählerisch. Sie war immer skeptisch, wenn von Liebe gesprochen wurde, und sagte, sie verschwende ihre Energien nicht mit romantischen Illusionen. Das machte sie für Männer reizvoll, sie schienen zu spüren, dass sie nicht an ihnen klebte. Bevor Paula mit Ralf an die Ostsee gefahren war, hatte sie sie gefragt, wie denn ihr Bild vom idealen Mann aussehe. Chris hatte geantwortet, ein Rilke lesender
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