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Im Herzen Rein

Im Herzen Rein

Titel: Im Herzen Rein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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einigen Jahren habe ich mir nicht einmal den lauwarmen Kartoffelsalat leisten können. Jetzt kann ich täglich hier essen.« Dabei lachte er wie ein Junge, der den Kopfsprung vom Fünfmeterbrett geschafft hat. Dann erzählte er ohne Umschweife von seinem tyrannischen Vater, der versucht hatte, ihm mit sechs das Lesen reinzuprügeln. Die Mutter lag krank auf dem Sofa, und auf dem Tisch davor lag das Lesebuch der ersten Klasse: Fröhliche Gedichte und Geschichten . Sein Vater saß neben ihm. Das Buch war noch zugeklappt. Erst sollte er den Titel lesen. Nach dem ersten Gestammel musste er aufstehen, sich bücken, und der Vater versohlte ihm den Hintern. In dieser bedrohlichen Situation brachte er nicht einmal das erste Wort »Fröhliche« zustande, und als der Vater nach einer weiteren Tracht Prügel die Aufgabe auf den Anfangsbuchstaben reduzierte, brachte er den auch nicht mehr heraus. Dabei hätte er für ein »F« nur zu pusten brauchen. In seiner Erinnerung sah die Mutter mit dem geöffneten Mund aus wie eine Zeichnung von Wilhelm Busch, wie eine Frau, die mit Entsetzen gen Himmel fuhr.
    Unter normalen Umständen wäre Chris irritiert gewesen und hätte nicht gewusst, wohin dieser Abend führen sollte. Ihr fiel der Titel einer Geschichte von Balzac ein: Die wunderbaren Varianten des Lebens , in der ein zum Tod durch Erhängen Verurteilter redet und redet, als würde ihm dadurch das Leben zurückgeschenkt. Chris hörte zu. Sie wusste nicht, wie aus seinem Monolog eine Unterhaltung zwischen ihnen entstehen konnte. Seine Entschiedenheit faszinierte sie trotzdem.
    Inzwischen waren sie bei der zweiten Flasche Champagner, und Heiliger erzählte von seinen beruflichen Erfolgen, von der Vorbereitung einer Ausstellung in Dubai auf der Gulf Art Fair und von einer Einzelausstellung demnächst in Berlin, dem Kunstevent des Jahres. Mit anschließender Party im Felix . Zwischendurch machte er ihr Komplimente, die immer anzüglicher wurden.
    Der Champagner hatte ihren Zustand verändert, und sie hörte seine Stimme wie ein gedämpftes Bariton-Saxofon. Sie hatte ihre Zigaretten aus der Tasche genommen, sich von dem Kellner Feuer geben lassen und ihm auch eine angeboten. Er lehnte ab. Später bot sie ihm ein Kaugummi an, aber das ging auch daneben. Aber dann kam die Gelegenheit: Er ging zur Toilette. Sie wartete einen günstigen Moment ab, goss den Rest seines Glases in ihres und ließ es in ihrer Handtasche verschwinden. Sie sah sich um. Der Kellner hatte es gesehen, sagte aber nichts, sondern stellte einfach ein frisches Glas auf den Tisch. Als Heiliger zurückkam, tranken sie den Rest, und er schlug vor, noch auf einen Espresso zu ihm zu fahren. Er wollte ihr das Video zeigen, das die Arbeit an seiner letzten Installation zeigte. Sie könne es auf mehreren Monitoren gleichzeitig sehen.
    Als sie das Lokal verließen, hielt er Ausschau nach einem Taxi. Er hatte nicht gezahlt; entweder brauchte er nicht zu zahlen, oder die Rechnungen kamen gesammelt am Monatsende, und sein Sekretär erledigte die Zahlungen.
    Was für ein unbeschwertes Leben, dachte sie, korrigierte sich aber gleich. Unbeschwert lebte gerade er nicht.
    Als die Taxe vorfuhr, erkannte sie den jungen Mann aus der Nahkampftruppe wieder, ließ sich von Heiliger die Tür aufhalten und stieg ein. Er ging um das Auto herum, nahm auf der anderen Seite Platz und nannte dem Fahrer seine Adresse.
    Chris wusste, dass der Undercover-Mann Anweisung hatte, sie nicht allein mit Heiliger aussteigen zu lassen, aber dennoch war sie nervös und fummelte an ihrer Handtasche herum.
    Plötzlich ergriff er ihre Handtasche und öffnete sie. Er nahm das Glas heraus, fuhr die Scheibe herunter und warf es hinaus. »Wenn du den Abdruck meiner Lippen möchtest - dann nur auf deinen.« Damit gab er ihr die Tasche zurück.
    Sie war schockiert und fühlte sich gedemütigt. Wieso gedemütigt? Wie konnte ein Killer sie demütigen?
    Sie lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster. »Dieser Umgang ist mir zu grob. Ich möchte nach Hause.«
    »Wie die Dame wünscht.«
    Er hatte dies zum Fahrer gesagt, dessen Blick sie im Rückspiegel auffing. Sie las Verständnis und Mitgefühl darin.

33
    Beim Aufwachen spürte sie, wie Ralf sie streichelte. Statt zu reagieren, blieb sie reglos liegen und überlegte, was gestern passiert war. Kemper würde heute abreisen, sie mussten aber noch seine Alibis überprüfen und brauchten eine unterschriebene Aussage. Marius hatte zugestimmt, gleich in der Früh zusammen mit

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