Im Informationszeitalter
Wahrscheinlichkeitsbegriff den Weg zu einer “schrankenlosen Subjektivität” zu öffnen (vgl.: Dieter Penning in: Thomsen/Fischer 1980, S. 41). Wenn also der “realistische” Roman niemals realistisch sein kann und auch die erfahrbare “Wirklichkeit” durch ihre Komplexität kaum noch Ausblicke auf größere Zusammenhänge erlaubt, scheint es folgerichtig, sich einer Literaturgattung zu widmen, die das Signum des Fiktionalen demonstrativ trägt. Der vordergründige Verzicht auf den Anspruch, die Realität wiederzugeben, macht es dem Leser somit leicht, sich auf neue Perspektiven einzulassen und sich einem subtilen, modellhaften Realismus hinter der fiktionalen Fassade auszusetzen. Das allerdings hieße die Problemstellung verkürzen. Häufig beschränkt sich die Spekulation über die Zukunft darin, die Neugier des Lesers (und des Autors) zu befriedigen und die Veränderung um der Veränderung willen auszuspielen, nicht aber, um eine Sinnfrage in der Veränderung zu klären.
Bei Lem und Amery wird schon durch das begleitende diskursive Werk deutlich, daß sie in ihrem belletristischen Werk die Entwicklung der Neuzeit zu beleuchten versuchen. “Es ist ein durchgängiger Befund der folgenden Studien, daß im Maße als die eigene Zeit als eine immer neue Zeit, als ‘Neuzeit’ erfahren wurde, die Herausforderung der Zukunft immer größer geworden ist.” (Kossellek 1979, S. 12.) Die Zukunft ist spürbar greifbarer geworden, so daß Versuche entstehen, sie zu verwalten (man denke an den populär gewordenen Begriff des “Zukunftsministers”).
Viele literarische Fiktionen, wie beispielsweise Vernes Mondreise, sind bereits von der Wirklichkeit überholt worden; im Fall von Orwells “1984” hat die Wirklichkeit einen anderen Verlauf genommen, ohne daß das Werk seine Aktualität völlig verloren hätte (obwohl Huxley’s “Brave New World ‘ den modernen Verhältnissen weit besser entspricht, wie noch dargelegt werden wird). Da sich SF vorwiegend in der Zeit bewegt, ist eine gewisse Übertragbarkeit des Dargestellten trotz aller spielerischen Elemente möglich. Insofern ist SF eine gute Möglichkeit, auf gegenwärtige Probleme aufmerksam zu machen; wie gut dies gelingt, ganz gleich ob als auf die Realität bezogene Literatur oder als SF, hängt vom einzelnen Werk ab. Inwieweit die in dieser Arbeit besprochenen Werke diese Möglichkeit nutzen, ist ein wesentlicher Bestandteil der Untersuchung.
1.2. Zu den Materialien
Bevor die eingangs genannten Werke von Amery und Lem näher untersucht werden können, müssen einige Prämissen geklärt werden :
> Amery ist von der Kritik und der rezensierenden Literatur kaum beachtet worden; eine
“literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Carl Amery findet nicht statt” (Kurtz 1992, S. 4) 8 . Bei Lem dagegen ist die Auswahl unter den Rezensenten schwierig: Von den halbwissen
schaftlichen Veröffentlichungen bis zu Universitätsschriften findet er internationale Beachtung, so daß eine vollständige Sichtung kaum möglich ist. Den meiner Ansicht nach besten Überblick bietet die Bibliographie von Wolfgang
Thadewald (Thadewald in: Marzin 1985, S. 179-322)
11
> Lem ist gebürtiger Pole, ist des Deutschen jedoch fließend mächtig 9 . Dennoch mußten die meisten seiner Werke übersetzt werden. Die Übersetzungen von Jens Reuter, Caesar Rymarowicz, Karl Dedecius, Klaus Staemmler, die die Fabeln der “Kyberiade” bearbeiteten und die Übersetzung des “ Kongreß ” von Ingrid Zimmermann-Göllheim, die als Vorlage verwendet wurden, sind vom Autor autorisiert worden, aber letztlich konnten vermutlich nicht alle Eigenheiten des polnischen Orginals berücksichtigt werden.
> Lem und Amery stehen in verschiedenen Traditionen, sowohl im politischen, kulturellen als auch literarischen Bereich (vgl. 2.2 und 2.3.).
Die vier Werke stammen aus dem relativ dichten Zeitraum von 1974 - 1983. Diese Zeitangabe ist allerdings gemessen am Erscheinungsdatum der Werke in Deutschland; Lem wird vielfach falsch beurteilt, weil man bei ihm den großen Verzugszeitraum zwischen Verfassungstermin und dem Erscheinen nicht berücksichtigt. Da es aber in dieser Arbeit vorwiegend um die Rezeption im deutschsprachigen Raum geht, ist die oben angegebene Zeitgrenze als Arbeitsgrundlage für diese Arbeit legitim.
Seit 1985 werden die “Gesammelten Werke in Einzelausgaben” Carl Amerys in der Süddeutschen Verlags-GmbH (Süddeutscher, Nymphenburger und List-Verlag)
Weitere Kostenlose Bücher