Im Informationszeitalter
zumindest teilweise in den Dienst nehmen kann für menschliche Fragestellungen. Diese Problematik wird im “ Kongreß ” aber nicht mehr ausgeführt.
6.3. Chemokratie und Psivilisation
“Auf der Erde leben 29,5 Milliarden Menschen. Es gibt Staaten und Grenzen, aber keine Konflikte. Der Hauptunterschied zwischen einstigen und jetzigen Menschen ist mir heute mitgeteilt worden. Grundbegriff ist jetzt die Psychemie. Wir leben in einer Psivilisation.” (Kongreß, S. 66). In dem Kriminalroman “Der Schnupfen” 16 (1977) entwickelt Lem bereits die Grundidee der Psychemie: durch ein aus verschiedenen Komponenten zufällig entstehendes Halluzinogen kommt es zu einer Reihe unerklärlicher Unfälle auf einer Autobahn. Aus dieser Idee, in Verbindung mit einer Anleihe aus einem anderen, früheren Roman, entstand die Chemokratie des “ Kongresses”: in “Transfer” kehrt der Weltraumfahrer Hal Bregg zu einer Erde zurück, die infolge des Einsteinschen Zeitparadoxons bereits in einer für Bregg fernen Zukunft lebt. Die Gesellschaft, die er antrifft, ist “betrisiert”, das heißt: den Menschen werden von Geburt an alle aggressiven Triebe genommen. Nach langem Ringen gelingt es Hal Bregg, sich in die
Gesellschaft einzufügen; mit diesem Schluß war Lem später nicht mehr zufrieden.
“Lem untersucht die Gesellschaft als System von Elementen, zwischen denen Informationsströme verlaufen. Dieses System wird von schweren, krankhaften Störungen geschüttelt, wenn der Informationsfluß auf Hindernisse stößt, oder absichtlich blockiert wird.” (Jarzebski in: Berthel 1976, S. 66).
Die Gesellschaft, in der sich Tichy nach seiner Einfrierung wiederfindet, ist gleichzeitig Alptraum und Paradies. Durch die Beliebigkeit des Lebens und den Verlust jedes teleologischen Strebens ist die Mündigkeit der Bürger reduziert auf die Wahl zum Wetter von morgen. Politik, Philosophie, sämtliche Objekte intellektueller Betätigung beschränken sich auf pharmazeutische Mittel, mit denen das Individuum nur sich selbst erlebt. Neil Postman glaubt in seinem berühmt gewordenen zeitkritischen Werk “Wir amüsieren uns zu Tode” eine Parallele dieser Tendenz im Fernsehverhalten - besonders in Bezug auf die jüngeren Generationen - zu erkennen: “Das Ungefährlichste am Fernsehen ist der Quatsch, den es produziert.” (Postman 1985, S. 193). Weit gefährlicher ist seiner Ansicht nach die Tatsache, daß das Fernsehen auch zum wichtigsten Informationsträger für Politik, Religion und Kultur geworden ist; jedes dieser Themen aber vorwiegend nach seinem Unterhaltungswert präsentiert und beurteilt wird.
Eine Forderung Lems ist, daß die Menschen emotional lebendig bleiben müssen; so kann Tichys Verlobte sich ohne Chemie nicht für oder gegen ihn entscheiden 151 ;
nur Tichy ist noch in der Lage, ohne “Furosil” wütend zu werden. “Spontanen Gefühlen darf nichts überlassen bleiben; das wäre unanständig.” (Kongreß, S. 66) Die Kultur der Gesellschaft hat aus der Not eine Tugend gemacht; die chemischen Krücken werden nicht als notwendiges Übel betrachtet, sondern als Überlegenheit gegenüber dem “Vorher”. Deswegen wird auch Tichy in verschiedenen Situationen verächtlich als “Tauling” beschimpft.
Wie in Lois steckt in Tichy noch ein Erbe, das ihm hilft, die Zukunft gegen den Strich zu lesen. Beide sind in der Lage, Vergangenheit und Zukunft miteinander zu vergleichen 17 ; hier verbinden sich sowohl in “ Passau ” als auch im “ Kongreß ” utopische und antiutopische Elemente.
Die Parallele mit der uns umgebenden Welt ist eindeutig: “Die Informationstechniken haben die
Situation eines Paradieses geschaffen, worin angeblich jeder, der nur will, alles erkennen kann, aber das ist eine komplette Verfälschung.” (Pospieszalska in: Berthel 1976, S. 126). Auf diese Verfälschung geht Neil Postman 18 ein, wenn er auf die Komplikationen hinweist, die sich ergeben, wenn eine Gesellschaft der “Informationselite” zu einer neuen Klassengesellschaft umgeformt wird. 19
Diese Elite ist nicht darauf angewiesen, zwischen Gut und Böse im Sinne Orwells zu unterscheiden - sie hält beide Pole fest in der Hand: “Wir haben das Böse gezähmt, wie die Krankheitskeime, woraus Arzneien bereitet werden. Kultur, mein Herr, das bedeutete früher, daß der Mensch dem Menschen einredete, der Mensch müsse gut sein.” (Kongreß, S. 93). Symington, Angestellter von “Procrustics”, einer Firma, die sich mit der Produktion
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