Im Informationszeitalter
von “Bösem” zur (chemischen) Triebbefriedigung befaßt, klärt Tichy über die neue Gesellschaft auf. Am Ende zeigt sich, daß er zur Informationselite der “Sachsichtigen” gehört, die die Wahrheit von den Menschen fernhält - wie er sagt, aus humanitären Gründen. Doch auch die scheinbar perfekt simulierte Gesellschaft hat ihre Schattenseiten: trotz allgemeinem Reichtum gibt es die “Schmierarchie”, eine gebräuchliche Bezeichnung für bestechliche Funktionäre. Es läßt sich vermuten, daß die Funktionäre die letzten tatsächlichen Ressourcen für sich beanspruchen.
Durch die allgemeine Betäubung wird eine Lösung der Probleme einer totalen Überbevölkerung endgültig verhindert. Die Konsequenzen sind im “ Futur ologischen Kongreß ” leicht zu erkennen: kulturelle Stagnation und Unmündigkeit der Gesellschaft, die für die einfachsten Entscheidungen in dieser Gesellschaft ein chemisches Mittel benötigt 20 .
“Seit Platon in seiner Politeia die Welt der wirklichen Dinge im Rahmen einer ontologischen Setzung als Schatten der Ideen bezeichnet hat, ist es eine Frage des erkennenden Subjekts, in welcher Form eine epi-stemologische Definition der Außenwelt möglich ist.” (Marzin 1985, S. 19). Lem präsentiert sich als Vertreter des Solipsismus, stellt diese Position aber auch gleich zur Diskussion, denn er läßt dem Leser den berechtigten Zweifel an der Welt, die sich ihm durch die Augen Tichys präsentiert: Ist alles nur ein drogeninduzierter Traum, sind Teile wahr und andere falsch, oder ist die Erzählung aus dem Munde Tichys so hinzunehmen, wie er sie präsentiert?
“Lem’s approach to tyranny would seem to indicate that he’s neither pro-West nor pro-East…” (Ziegfeld 1985, S. 22). Tatsächlich hält sich Lem aus einer solchen Parteinahme heraus; so richtet sich seine Kritik sowohl gegen das kapitalistische als auch das kommunistische System, denn die Chemokratie kann in beide Richtungen gedeutet werden. Das falsche Paradies könnte sich ebenso auf die Verspechungen des “real existierenden Sozialismus” als auch auf die Überflußgesellschaft am Rande des Ruins, so wie Amery sie beschreibt, hindeuten 21 .
In “Stimme des Herrn” führt Hogarth, Held des Romans und Wissenschaftler, aus, daß der Menschheit im Umgang mit Technologie nur zwei Möglichkeiten bleiben: entweder muß sie “den Himmel stürmen”, oder sich abkapseln und die Technologie zur eigenen Bequemlichkeit nutzen. Sowohl in “Transfer” 157 als auch im “Kongreß” hat sich die Menschheit für letzteres entschieden. Die Anwendung von Atomkraft sieht Lem dagegen an sich positiv, wenn ihr Gebrauch in den Händen verantwortungsbewußter Experten liegt 22 .
Lem spricht meiner Ansicht nach mit dem “ Kongreß ” eine Absage an die szientistisch-humanistische Zivilisations-Utopie aus: die menschliche Kultur ist nur in der Lage, mit den Mitteln der Technologie die Mängel und Unstimmigkeiten, in diesem Fall die brutale Wahrheit der totalen Überbevölkerung zu überdecken, nicht aber zu beheben. Schwonke beschreibt das gleiche Problem so:
“Utopie als ‘Leitbild des Handelns’, als ‘Wurf des Willens’-diese Charakterisierung trifft das utopische Denken des 19. Jahrhunderts, den Ausdruck des ungebrochenen Selbstbewußtseins des Menschen, der es unternimmt, die Welt aus eigener Kraft und Macht zu gestalten.” (Schwonke 1957, S. 2).
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die meisten kritischen Gesellschaftsentwürfe im Stil “Utopias” von Thomas Morus entworfen. Doch auch der Stil des gegenutopischen Denkens ist von Amery und Lem weiterentwickelt worden. Waren es bei Orwell oder Huxley, in Bradburys “Fahrenheit 451 ” oder Kornbluth/Pohls “The Space Merchants” nahezu perfekt funktionierende Herrschaftssysteme, deren primäre Absicht es war, die eigene Verewigung anzustreben, so positionieren Lem und Amery in ihren “cautionary tales” (Amery-Interview 1995, S. 3) ihre Herrschaftssysteme vor dem Hintergrund nahezu apokalyptischer Entwicklungen 23 .
1982 lädt die Projektgruppe INSTRAT der Freien Universität Berlin Lem zu einem Kolloquium ein, in dem interdisziplinär das Potential von Informationsund Kommunikationssystemen für individuelle und gesellschaftliche Problembewältigungen untersucht werden soll. Um dieses Potential auch für die Zukunft abschätzen zu können, werden die Konfrontation von spekulativer Literatur und verschiedenen Wissenschaften gesucht. Zu diesem Zweck
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