Im Informationszeitalter
entwickelt Lem die Vision der “Ethosphäre”, in der
“eine fiktive Zivilisation aus der Gefahr des Kollapses der internalisierten Werte heraus sich eine ‘physikalische Ethik’ geschaffen (hat), die jegliches unethisches Verhalten antizipiert und als ‘Wolke’ verhindert. Diese Vereinigung von Physik, Ethik, Technik und Logik stellt ein Reich der vollständigen Ordnung dar.” (Hennings 1983, S. 7).
Die Idee der “physikalischen Ethik” findet sich sowohl in “ Kyberiade” wieder, als auch in der Chemokratie -jeweils aus der Perspektive der Schöpfer und der “Opfer” einer solchen Ethik. Schon im Ansatz unterscheidet Lem die Denkbarkeit und die Wünschbarkeit der “Ethosphäre”. Die Denkbarkeit dieses Modells basiert für Lem auf der These, daß die Techno-Evolution die Bioevolution zwangsläufig ablösen wird. Dementsprechend wird sich auch die Ethik nicht mehr an den biologischen Bedürfnissen allein orientieren, sondern sie muß beispielsweise auf ein ganz anderes evolutionäres Tempo reagieren können.
Nach einem Exkurs ihrer Methoden sollen im folgenden die Visionen der beiden Autoren zu zukünftigen Systemen untersucht werden, sowohl in Bezug auf ihre Denkbarkeit, als auch auf ihre Wünschbarkeit.
7. Stanislaw Lem und Carl Amery im Vergleich
“Der ‘Stil’ von Science-Fiction ist Realismus; denn das Ungewöhnliche und Phantastische muß als selbstverständlich, also quasi realistisch präsentiert werden.” (Hasselblatt in: Berthel 1981, S. 194/195.) Eine Gattung der Verfremdung bedient sich also des Stils des Realistischen, um das Verfremdete umso deutlicher werden zu lassen? “Gewiß, ich betrachte mich als realistischen Schriftsteller, denn ich befasse mich mit realen Dingen. Mich interessiert nicht die Eigenschaft der Welt, die sie nicht besitzt.” (Lem 1986,
S. 110). Mehr noch als für Lem gilt dies für Amery, verbunden mit seinem politischen Engagement; in diesem Sinne muß das SF-Realismuskonzept von Hasselblatt korrigiert werden.
Beide schaffen auf ihre persönliche Art und Weise an sich nicht-realistische Situationen, in denen dann auf Mechanismen der Realität hingewiesen wird.
In den vier Werken wurden unterschiedliche Ansätze der Verfremdung als “Verfremdung in der Zeit” vorgestellt
> in der Zeitreise mittels einer Zeitmaschine im “ Königsprojekt “,
> in der Schaffung einer zeitentgrenzten Galaxis, die einzig durch rudimentäre Hinweise an den Menschen gebunden ist (” Kyberiade”),
> in der Einführung einer gleichzeitig zukünftigen und vergangenen Welt, die durch eine von der
Wissenschaft induzierte Katastrophe entstand (“Passau”),
> in der halluzinatorischen Reise in eine zeitlich nicht zu weit entrückte Zukunft dieser Welt (“Kongreß”). Beide Autoren transportieren folglich “reale Dinge”, Vorstellungen, die sich aus dem realen Erfahrungsbereich gebildet haben, in einen imaginären Rahmen, der über einen fixen Parameter, ein Motiv aus dem SF-Bereich, gebildet wird. Daneben steht es ihnen frei, die “Variablen” zu besetzen, die ihnen für die Ausgestaltung des imaginären Raumes nützlich erscheinen (beispielsweise daß Trurl und Klapauzius in der 7. Fabel in der Lage sind, Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit miteinander zu vertauschen). Der freie Raum um das SF-Motiv wird von den beiden Autoren recht unterschiedlich genutzt. Bei Amery hat das SF-Element nur funktionalen Charakter, es dient dem Spiel mit historischen Elementen, deren Gesetzlichkeiten untersucht werden. Lem dagegen setzt zusätzlich die Gesetze der Physik, der Biologie, der Wahrscheinlichkeit und andere außer Kraft. Seine Welten unterscheiden sich viel weitgehender von der Erlebenswelt, da auch die Ideen, die “realen Dinge”, die Lem dem eingangs erwähnten Zitat zu Folge beschreiben möchte, wesentlich weniger konkret umrissen sind, als die Amerys. Im folgenden Kapitel soll auf die verschiedenen Methoden der beiden Autoren, ihren imaginären Rahmen zu setzen, eingegangen werden. Anschließend sollen die vermittelten Ideen auf zwei Aspekte hin untersucht werden, den kulturkritischen und den transzendentalen Aspekt, wobei die Wechselwirkung beider entscheidend ist. Beide Autoren stellen den Verlust des Transzendentalen als kulturstabilisierenden Faktor oder allgemeine Defizite im kulturellen Gefüge fest. Aus diesem Grund können alle vier Werke als “cautionary tales” bezeichnet werden; auf die Charakteristik der Mahnung wird in 7.
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