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Im Interesse der Nation

Im Interesse der Nation

Titel: Im Interesse der Nation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Hilfe bitten mußte, sollte noch eine Minute warten. Man müsse vorsichtig vorgehen, fügte Carl hinzu, denn der Mann komme vielleicht gleich heraus, ohne jede Aufforderung.
    Carl entsicherte seine Pistole, ging zum hinteren Ende der Erster-Klasse-Kabine und stellte sich hinter den beiden leeren Sesseln der Mittelreihe mit dem Rücken an die Wand. Bis zum Ziel waren es etwa sechs Meter.
    »Okay«, sagte er. »Fangen Sie an!«
    Der fingierte Streit kam nur zögernd in Gang, aber das wäre in Wirklichkeit nicht anders gewesen. Carl schrie von Zeit zu Zeit, sie müßten lauter werden, und so geschah es. Am Ende war es ein ohrenbetäubender Lärm. Einer brüllte ein Gebet, ein anderer spulte das kleine Einmaleins herunter, und ein Dritter lieferte einen nie versiegenden Strom von erstaunlich phantasievollen Flüchen. Als sich all dies mit der Stimme einer Stewardeß mischte, die sich im Lautsprecher aufrichtig nervös und verzweifelt anhörte, was sie vielleicht auch war, mußte sich im Cockpit ein höchst realistischer Eindruck ergeben.
    Sie mußten jedoch fast fünf Minuten warten, bis der Entführer auftauchte. In der Sekunde, in der sich die schwarze Kapuze vor dem Vorhang zeigte, wurde es in der Kabine mucksmäuschenstill.
    »Ich habe eine Handgranate in der Hand. Wenn ich sie fallen lasse, sterben wir alle!« brüllte der Entführer und hielt die Handgranate vor sich. Dann entdeckte er Carl, der hinten an der Wand stand und die Pistole direkt auf ihn richtete.
    Der Entführer erstarrte. Es war jedoch unmöglich, seinen Gesichtsausdruck unter der schwarzen Kapuze zu beurteilen.
    »Handgranate. Entsichert. Wenn ich loslasse, sterben wir«, wiederholte der Entführer zu Carl, doch mit spürbarer Unsicherheit in der Stimme.
    »Njet, das tun wir nicht«, erwiderte Carl mit einer gewaltigen Kraftanstrengung, um ruhig zu erscheinen und mit einem übertriebenen russischen Akzent zu sprechen, dessen er sich jetzt bediente. Bevor er fortfuhr, hob er die Pistole etwas höher und zielte nicht mehr auf den Rumpf des Entführers, sondern direkt aufs Gesicht.
    »Ich bin affizer des GRU und habe den Befehl über die Operation übernommen. Sie haben versagt. Es hätte alles zum Teufel gehen können. Lassen Sie sofort die Handgranate fallen. Das ist ein Befehl!« bellte Carl. Wenn er sich selbst hätte sehen können, hätte er sich vor Lachen auf dem Boden gekrümmt.
    Doch die Passagiere ringsum, die inzwischen Zeit gefunden hatten, die Köpfe zu recken, gingen sofort wieder in Deckung.
    Zu Carls Erstaunen gab der Entführer schnell auf und ließ die Handgranate zu Boden fallen. Sie rollte etwa einen Meter weit und blieb dann liegen. Carl ließ die Waffe nicht sinken und gab sich Mühe, seine Furcht nicht zu zeigen, denn er war nur halb davon überzeugt, richtig kalkuliert zu haben: Er ging davon aus, daß das GRU keine Anweisungen gegeben hatte, welche die gesamte Maschine mit sämtlichen Passagieren in Gefahr brachten. Das wäre das letzte gewesen, was sie sich hätten wünschen können.
    Nachdem vier Sekunden vergangen waren, die von allen Anwesenden, möglicherweise mit Ausnahme des Entführers, als zehn Minuten empfunden wurden, nahm Carl die Pistole behutsam in die linke Hand und ging vorsichtig nach vorn. Er machte einen unbewußt langen Schritt, als er über die Handgranate hinwegstieg.
    »Auf die Knie!« befahl er. Der Entführer gehorchte erst nach einigem Zögern. Carl schlug ihn mit der rechten Hand und dem rechten Knie bewußtlos, sicherte dann erneut seine Pistole und steckte sie in die Innentasche der Jacke. Er holte die Handschellen, die er aus der Plastiktasche vor dem Sitz nahm, der sein letzter Sitzplatz in diesem Leben hätte sein sollen. Dann ließ er die Handschellen auf dem Rücken des Entführers zuschnappen und ging zum Cockpit.
    Die Maschine befand sich im Landeanflug auf Damaskus. Durch die Fenster des Cockpits konnte man schon die Landebahn erkennen. Im Cockpit roch es stark nach Schweiß und Angst. Die Maschine hatte vier Piloten.
    »Die Entführer sind unschädlich gemacht. Ich repräsentiere einen mit Frankreich verbündeten Sicherheitsdienst. Die Gefahr ist also vorbei«, grüßte Carl, als er gebeugt das Cockpit betrat.
    Ein hörbarer Seufzer der Erleichterung ertönte, und vier verschwitzte Gesichter wandten sich Carl zu, der plötzlich die näherkommende Landebahn des Flughafens von Damaskus entdeckte.
    »Um Gottes willen, Sie wollen doch nicht etwa landen! Wer hat hier das Kommando?« schrie

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