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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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zu erregen.

Sperber führte Tubber durch Gänge, in denen nun scharenweise SS-Männer mit Stapeln von Rotkreuz-Uniformen umherhasteten. »Was Sie da vorhaben, ist blanker Irrsinn«, sagte der Engländer stockend. Er hatte sein Entsetzen über Himmlers Plan noch nicht überwunden.
»Irrsinn?«, fragte Sperber verständnislos. »Wieso glauben Sie das?«
»Da fragen Sie noch? Der Professor hat doch vorhin erwähnt, wie gefährlich es ist, die Vergangenheit zu verändern!«
»Sie hätten besser zuhören sollen«, berichtigte ihn der SS-Offizier. »Er sagte, es ist gefährlich, die Vergangenheit unbedacht zu verändern. Aber wir haben durch umfangreiche Versuche herausgefunden, dass sich der Lauf der Dinge durchaus nachträglich manipulieren lässt, wenn man dabei nur sorgfältig vorgeht.«
»Das ist doch Unsinn. Die Vergangenheit ist, wie sie ist!«, widersprach Tubber entschieden; aber er spürte, dass er sich dessen ganz und gar nicht sicher war.
»Meinen Sie, Leutnant Tubber? Dann hätten wir kein einziges Bild in die Gegenwart holen können. Aber wir haben schon weit mehr vollbracht! Es ist uns beispielsweise gelungen, Menschen durch chirurgisch präzise Eingriffe in die Vergangenheit ... nun, wir haben sie nichtexistent werden lassen.«
Tubber sah Sperber erschrocken an und stolperte beinahe über eine leicht aufragende Steinplatte im Fußboden. »Was haben Sie?«
»Wir haben dafür gesorgt, dass Personen niemals lebten«, antwortete der Sturmbannführer, amüsiert über die fassungslose Reaktion seines Gefangenen. »Die Resultate waren höchst zufriedenstellend.«
»Völlig unmöglich!«, widersprach Tubber, als wollte er diesen Gedanken um jeden Preis von sich fernhalten.
Sperber lächelte nachsichtig. »Ich versichere Ihnen, es ist möglich. Alle materiellen Zeugnisse der nachträglich aus der Geschichte ausgemerzten Individuen verschwanden schlicht aus der Welt, als hätte es sie nie gegeben – was ja in gewisser Hinsicht auch zutrifft. Interessanterweise blieb aber, obwohl die Leute ja eigentlich niemals gelebt hatten, die Erinnerung an sie für eine Weile präsent bei den Menschen, die sie ursprünglich kannten ... ein seltsamer Effekt. Doch wie wir feststellten, verblasst diese Erinnerung sehr schnell, wird schattenhaft und verschwindet schließlich ganz. Nur diejenigen, die an der Auslöschung der Personen beteiligt waren, vergessen sie nicht. Die Methode funktioniert bestens. Erst vor zwei Wochen habe ich selber eine Familie Hamburger Juden durch einen exakten Eingriff in die Vergangenheit in der Gegenwart inexistent werden lassen.«
Ein schwerer Kloß bildete sich in Tubbers Hals. Er ahnte, um welche Familie es sich handelte. Das Erlebnis auf dem Ohlsdorfer Friedhof stand ihm plötzlich wieder klar vor Augen. Er begann zu verstehen, was geschehen war.
Tubber verstummte. Er hatte keine Worte.

Nachdem sie eine steinerne Treppe hinabgestiegen waren, standen sie schließlich wieder vor der Zellentür. Mit einem Ruck zog Sperber den dicken Eisenriegel zurück.
»Zu schade, dass Sie sich gegen uns entschieden haben«, bemerkte er bedauernd.
»Gerade Ihre Charakterstärke legt Zeugnis von Ihrem nordischen Wesen ab.«
Er griff in die Tasche seiner Uniformjacke, zog eine geöffnete Packung Camel-Zigaretten hervor und hielt sie Tubber entgegen.
Benommen von den durch sein Hirn schwirrenden Gedanken schüttelte der Engländer ablehnend den Kopf. »Ich rauche nicht.«
»Lobenswert«, meinte der Sturmbannführer in vollem Ernst und steckte die Schachtel wieder fort. »Rauchen verkürzt das Leben unnötig.«
Er wies mit einer Handbewegung auf die Zelle, und Tubber trat in das klamme Halbdunkel des kleinen Raumes.
»Sehen Sie diesen Tod als Gnade an«, gab ihm Sperber ohne jeden Zynismus noch mit. »Ein kurzer Knall, dann umgibt Sie die Ruhe eines ewigen traumlosen Schlafes. Sie bleiben davor bewahrt, morgen in die Nichtexistenz gestoßen zu werden.
Ich wünsche Ihnen ein schnelles Ende.«
Mit einem dumpfen Krachen fiel die Tür hinter Tubber zu.

Als Sperber die zum Zellentrakt führende Treppe wieder hinaufging, wartete am oberen Absatz Otto Pallasch auf ihn.
»Bist du mir gefolgt?«, fragte Sperber verwundert.
»Bin ich«, bekannte Pallasch freimütig. »Ich hab' geseh'n, wie du nur mit einem der Gefangenen aus der Bibliothek des Reichsführers gekommen bist. Da bin ich halt neugierig geworden. Der Engländer hat sich wohl net für uns entschied'n?«
»Dieser Tubber ist ein Dummkopf, wenn du mich fragst.

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