Im Jahre Ragnarök
Sehen Sie, die Bremsleuchten! Er hält an!« Ohne erst auf Anweisungen zu warten, brachte Chantal den Wagen zum Stehen und schaltete den Motor aus.
»Gut reagiert«, lobte Tubber und öffnete die Tür. »Ich will sehen, ob ich mich anschleichen kann. Falls Schüsse fallen oder die Lage sonst wie brenzlig wird, verschwinden Sie sofort von hier. Ich werde für so etwas bezahlt, Sie nicht.«
Ohne eine Bestätigung abzuwarten, stieg er aus und näherte sich, Schutthaufen und Mauerreste als Deckung nutzend, dem Pick-up. Er musste vorsichtig sein. Ein falscher Schritt, ein kleines Geräusch hätten ihn in der gespenstischen Stille, die zwischen den Ruinen herrschte, sofort verraten. Aber es war für Tubber nicht das erste Mal, dass er seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet unter Beweis stellen musste.
Und auch diesmal konnte er sich auf sein Talent zum lautlosen Anpirschen verlassen.
Captain Jakes hatte derweil den Wagen verlassen und stand vor dem Kühlergrill.
Das trübe Standlicht der Scheinwerfer machte seine Beine sichtbar, doch von der Hüfte aufwärts war er nur als schwarze Silhouette sichtbar. Das Glimmen einer Zigarette zeigte, wo sich der Kopf befand. Keine sieben Schritte von ihm entfernt hatte Tubber hinter einem niedrigen Mauerstumpf hockend Deckung gefunden und wartete unruhig, was nun geschehen würde. Er war dem Captain auf gut Glück gefolgt und hatte keinesfalls damit gerechnet, Zeuge eines geheimen Treffens zu werden.
Seine Anspannung war groß, aber auch seine Neugier. Er konnte sich einfach nicht zusammenreimen, welche Rolle dieser amerikanische Offizier spielte. Überhaupt beschlich Tubber das ungute Gefühl, dass die ganze Angelegenheit mit jeder neuen Spur immer unübersichtlicher und verworrener wurde. Umso gespannter war er auf das, was ihn nun erwartete.
Lange musste Tubber nicht ausharren. Nach wenigen Minuten, die sich allerdings zu einer Ewigkeit zu dehnen schienen, waren erst Schritte im Dunkel zu hören, dann eine Stimme. Mit sperrigem deutschem Akzent sagte ein Mann auf Englisch: »Guten Abend, Captain Jakes. Wie gut, dass Sie es heute doch einrichten konnten.«
»Für meine besten Kunden doch immer«, entgegnete Jakes. »Und ich habe gute Neuigkeiten.«
Tubber spähte über den Rand der eingestürzten Mauer hinweg und versuchte, etwas zu erkennen. Die Dunkelheit ließ ihn aber nicht viel mehr wahrnehmen als düstere Schemen. Von dem hinzugekommenen Mann waren nur die Beine, in groben grauen Hosen, im fahlen Licht der Autoscheinwerfer sichtbar.
»Sie können also alles liefern?«, erkundigte sich der Unbekannte.
»Die ganze Bestellung. Sonnenschutzcreme, Stiefel, Feldflaschen, alles«, versicherte Jakes. »Pattons Blankounterschriften bekommen Sie ebenfalls. Und ich will überhaupt nicht wissen, was Sie damit vorhaben.«
»Das ist auch besser so. Besser für Sie, Captain. Übrigens fehlte bei der letzten Lieferung das Notizpapier, das ich ausdrücklich verlangt hatte.«
»Ich muss es in der Eile vergessen haben. Aber jetzt kann ich Ihnen 5000 Blatt allerbestes Papier überlassen, wenn es Sie nicht stört, dass General Pattons Briefkopf aufgedruckt ist.«
Der Unbekannte schien kurz nachzudenken, dann nahm er das Angebot an.
»Gut. Ich nehme es.«
»Immer wieder schön, mit Ihnen Geschäfte zu machen. Leider wird das unser letzter Deal. Ich steige aus.«
»Und wieso?«, fragte der Unbekannte nach. »Haben Sie einen bestimmten Grund?«
»Bei uns in den Staaten gibt's eine Redensart: Quit while you're ahead . Ich habe genug Geld gemacht und will mein Blatt nicht überreizen. Ach, und wo wir gerade vom Geld reden ...«
»Sie erhalten für die Ladung 10 000 Dollar, wie vereinbart. Die Übergabe findet morgen um 19 Uhr statt, und zwar in der verlassenen Invalidensiedlung Frohnau, vor dem Gemeinschaftshaus. Ein sicherer Platz, nicht ganz einfach zu finden. Ich zeige Ihnen den Ort auf dem Stadtplan.«
Eine Taschenlampe wurde eingeschaltet. Im Widerschein des Lichtkegels sah Tubber zum ersten Mal das Gesicht des Unbekannten. Vor Schreck hätte er fast das Gleichgewicht verloren.
Otto Pallasch!
Er konnte, er wollte es nicht glauben. Aber ein Irrtum war ausgeschlossen. Das kantige Kinn, die abstehenden Ohren, das mattblonde Haar – eindeutig derselbe Mann, den Tubber einige Tage zuvor tot auf einem Tisch hatte liegen sehen.
Kalter Schweiß rann Tubbers Stirn hinab. Für einen Augenblick war er unfähig, irgendeinen Gedanken zu formen.
Dann stemmte sich sein Verstand gegen das, was seine Augen
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