Im Jahre Ragnarök
sahen.
Das kann unmöglich Pallasch sein , versuchte er sich klarzumachen. Pallasch liegt mausetot in Kassel. Dieser Mann ist ihm ein wenig ähnlich, mehr nicht ... einfach nur ähnlich. Als dann aber der Mann den Kopf drehte, sah Tubber klar und deutlich die Narbe, die sich unterhalb des Auges über die rechte Wange zog. Genau die Narbe, die ihm auch bei der Leiche aufgefallen war. Er merkte, dass sein Herz raste, als wollte es den Brustkorb sprengen.
Das Licht der Lampe erlosch. Irgendwo in weiter Ferne hörte Tubber, wie die beiden Männer sich voneinander verabschiedeten, ein Motor gestartet wurde und ein Auto davonfuhr. Er verharrte regungslos, nicht fähig sich zu rühren. Mehrere Minuten verstrichen, ehe er endlich in der Lage war, sich aufzurichten und zurückzutaumeln.
Der Chrysler rollte mit röhrendem Motor durch die Nacht, in Richtung Berlin.
Tubber saß auf der Rückbank und starrte hinaus ins schwarze Nichts. Nur langsam kam wieder Farbe in sein schreckensbleiches Gesicht.
»Man könnte wirklich meinen, Sie hätten ein Gespenst gesehen«, meinte Chantal Schmitt besorgt.
»Das habe ich auch«, entgegnete Tubber tonlos. »Kommissar, sagen Sie ... Sie haben doch auch Pallasch' Leiche ganz deutlich gesehen. Er war tot, ganz sicher tot?«
Dünnbrot wandte sich herum. »Natürlich war er tot. Das wissen Sie doch. Was soll die Frage?«
»Jakes hat sich mit Pallasch getroffen. Praktisch vor meiner Nase. Ein korrupter Army-Depotchef macht Geschäfte mit einem toten SS-Mann. Ich bin verrückt, nicht wahr?«
Nach einem langen, zweifelnden Blick meinte der Deutsche: »Ich schlage vor, wir unterhalten uns besser morgen darüber, wenn sie ausgeschlafen sind, Herr Leutnant.«
Das Liaison Office, Sitz des britischen Verbindungsoffiziers in Berlin, befand sich im ehemaligen Gauarbeitsamt in der Friedrichstraße, einem vom Krieg fast völlig verschonten Bau im massiven Stil des Dritten Reiches, auf dessen turmartigem Mittelbau noch immer ein kolossaler Granitadler thronte. Tubber hoffte, hier eine Unterkunft zugewiesen zu bekommen. Doch der wachhabende Corporal, der im Schein einer einzelnen Schreibtischlampe hinter seinem Tisch in der Eingangshalle saß, konnte ihm nicht weiterhelfen. Das Büro des Zahlmeisters, zuständig für die Vergabe von Quartieren, war nur bis sechs Uhr abends besetzt. Überhaupt war das gesamte Liaison Office bis zum nächsten Morgen menschenleer, sodass Tubber das Gebäude unverrichteter Dinge wieder verlassen musste.
»Nicht mal bis morgen in der Halle bleiben dürfen wir«, ärgerte sich Tubber, nachdem er Dünnbrot die Lage erläutert hatte. »Ich habe alles versucht, aber dieser Corporal klebt an seinen Vorschriften. Sieht so aus, als müssten wir die Nacht im Freien verbringen.« »Dummes Zeug«, mischte sich Chantal ein. »Sie kommen mit mir. Meine Freundin Greta, bei der ich übernachte, hat eine große Wohnung und sicher Platz für Sie beide. Einverstanden?«
Tubber wollte höflich ablehnen. Er war von seinen langjährigen Einsätzen in entlegenen Weltgegenden daran gewöhnt, auch bei kühler Witterung ohne ein Dach über dem Kopf zu schlafen. Er sah keinen Anlass, fremden Menschen zur Last zu fallen. Außerdem, und das war der eigentlich ausschlaggebende Grund, wollte er ungerne die Nacht in einer Wohnung mit einer Frau von zweifelhaftem Ruf und ihrer vielleicht im gleichen Gewerbe tätigen Freundin verbringen. Bevor er aber das Angebot ausschlagen konnte, kam ihm Dünnbrot zuvor und nahm mit einer Begeisterung, die ans Lächerliche grenzte, den Vorschlag an.
Nach diesem Tag verspürte Tubber kein Verlangen, auch noch einen Streit mit dem deutschen Polizisten auszufechten. Er überspielte seinen Widerwillen und stimmte gleichfalls zu.
Oh Gott, bitte mach, dass Ingrid nie davon erfährt , bat er in Gedanken inständig, als er ins Auto stieg.
Wie sich herausstellte, wohnte Greta Donath im Bezirk Charlottenburg, unweit der Sherman Barracks genannten amerikanischen Kasernen auf dem ehemaligen Reichssportfeld. Alle Gebäude in der Bolivarallee, auch das Haus mit der Nummer 9, ein klar gegliederter und schnörkelloser Bau der späten zwanziger Jahre, hatten erheblich bessere Zeiten gesehen. Trotzdem hatten die Straßenzüge dieser Gegend den Krieg weitaus besser überstanden als andere Teile Berlins. Und während nahezu der gesamte Rest der Stadt in lebloses Dunkel gehüllt war, flackerte hier hinter zahlreichen Fenstern der mehrstöckigen Wohnhäuser sogar bescheidenes Kerzenlicht.
Doch
Weitere Kostenlose Bücher