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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Dinge von Wert aus dem Chrysler holten. Dann kletterten sie auf die Ladefläche.
Tubber hatte die Klappe kaum wieder geschlossen, als der Laster ruckartig anfuhr. Der Wagen vollführte einen kurzen Schlenker, der zweifellos keine andere Ursache hatte als eine spontane Laune Sergeant Kerouacs, und der Tubber in seinen stillen Vorbehalten gegen den Cannabis rauchenden Amerikaner bestärkte. Nach einigen Metern Fahrt über den Seitenstreifen schwenkte der Lastwagen wieder auf die Betonpiste zurück und beschleunigte gemächlich.
Chantal sah sorgenvoll auf ihr langsam kleiner werdendes Auto zurück. »Ob ich den wohl jemals komplett wiedersehe?«, fragte sie skeptisch.
»Hoffen wir, dass wir die nächsten Tage so überstehen, dass diese Frage überhaupt noch von Bedeutung ist«, sagte Tubber so leise, dass seine Worte völlig in den Fahrgeräuschen versickerten. Er zog seine Brieftasche heraus, um endlich die nachlässig verstauten Papiere wieder ordentlich unterzubringen. Als er die Dokumente durchging, fiel ihm jedoch auf, dass etwas fehlte. Der Zettel, den der mysteriöse Pallasch-Doppelgänger in Kassel bei sich getragen hatte, war nirgendwo zu finden. Doch zu seiner eigenen Verblüffung nahm Tubber den Verlust gelassen hin.
Seine Reaktion war ihm selbst ein Rätsel, hatte er doch vor noch nicht allzu langer Zeit Kopf und Kragen riskiert, um genau diesen Zettel wieder aus Sanssouci zurückzuholen, als würde ihn ein innerer Zwang antreiben. Jetzt hingegen fragte er sich nicht alleine, weshalb ihn das Fehlen des Papierstücks nunmehr völlig unberührt ließ, sondern auch, warum er überhaupt für diese Notiz, die doch ihren Zweck längst erfüllt hatte, ein so überflüssiges, unvernünftiges Risiko eingegangen war.
Tubbers Gedankengänge wurden durch Dünnbrot unterbrochen. »Haben Sie sich die Ladung schon genauer angeschaut, Herr Leutnant?«, wollte der Deutsche wissen.
»Noch nicht«, antwortete Tubber. Er ahnte, dass sich die Bemerkung sicher nicht auf das nagelneue Sportfahrrad bezog, von dessen Lenker noch ein Preisschild des New Yorker Kaufhauses Macy's baumelte und an dessen Rahmen ein Zettel mit Namen und Dienstnummer eines in Aue stationierten Captains klebte. Also betrachtete er zunächst die blauen Fässer genauer. Den Etiketten zufolge enthielten sie eine chemische Substanz, Ammoniumnitrat in kristalliner Form. Und die auf einer Holzpalette aufgestapelten und verzurrten Kanister waren, wie nicht nur ihre Beschriftung, sondern auch der sie umgebende Geruch verriet, mit Dieselkraftstoff gefüllt.
Tubber wusste fast augenblicklich, was das bedeutete. Er entsann sich noch genau seiner Grundausbildung als Geheimagent, als man ihm beigebracht hatte, aus allen nur möglichen Materialien allerlei Brisantes herzustellen.
»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Tubber. »Das ergibt eine Menge Sprengstoff.«
Chantal und Greta fuhren erschreckt zusammen, doch Dünnbrot beruhigte sie rasch. »Keine Sorge, es besteht keine Gefahr«, versicherte er. »Oder jedenfalls keine große. Man muss die beiden Bestandteile erst vermengen, und selbst dann ist immer noch eine Sprengkapsel nötig. Ich habe das im Krieg oft genug gemacht.«
Während Dünnbrot mit mäßigem Erfolg die Besorgnis der beiden Frauen zu zerstreuen versuchte, öffnete Tubber die Schnappverschlüsse der Stahlkisten und klappte die Deckel auf. »Sprengkapseln wie die hier«, erklärte er und zeigte auf eine Reihe silbriger Metallröhrchen. Auch einige Zündmaschinen und die notwendigen Kabelrollen waren vorhanden.
»Alles da, um einen halben Berg zu pulverisieren«, kommentierte Tubber die Entdeckungen trocken und schloss die Kisten wieder. »Vermutlich eine Lieferung für die Uranbergwerke.«
Greta erschauderte. »Erwähnen Sie bitte die Bergwerke nicht. Viele gehen dorthin, weil sie nur da jeden Tag genug zu essen bekommen. Aber niemand lebt dort lange.«
»Wieso nicht? Ist es dort so schlimm, dass sie schnell wieder verschwinden?«
Da Greta auf die Nachfrage nur mit einem Gesichtsausdruck stummen Horrors reagierte, antworte Dünnbrot für sie: »Sie verschwinden, indem sie sterben. Stellen Sie sich Tausende von Menschen vor, denen die Haare büschelweise ausfallen, die bedeckt sind mit eiternden Geschwüren und die dauernd schleimiges schwarzes Blut husten. Das sind die Bergleute dort. Ich habe es selbst erlebt.«
Die brutal knappe Schilderung jagte Tubber einen kalten Schwall durch den gesamten Leib und drang bis in die letzte Verästelung seiner Adern

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