Im Jahre Ragnarök
hingegen blieb die Pointe schleierhaft, und er bemerkte, dass Dünnbrot nicht weniger ratlos war. Vermutlich, so folgerte er, musste man mit den subtileren Feinheiten der amerikanischen Sprache vertraut sein, um Kerouacs Anspielung verstehen zu können.
»Also bin ich jetzt und für die nächsten zehn Jahre Zwangsehrenmitglied bei diesem Club uniformierter Witzfiguren«, fuhr Kerouac fort. »Wie unterbelichtet diese Leute sind, sehen Sie daran, dass die mich inzwischen sogar zum Sergeant gemacht haben. Ausgerechnet mich! Das ist der größte Witz überhaupt.«
Nach und nach wurde Kerouac, obgleich Amerikaner, Tubber etwas sympathischer.
Vielleicht ließ dieser Mann, der ganz eindeutig wenig für Autoritäten und Vorschriften übrig hatte, sich zu einer weiteren geringfügigen Abweichung von den Regeln bewegen? Tubber wagte einen Versuch:
»Sergeant, dürfte ich Sie um einen Gefallen ersuchen?« Kerouac grinste breit. »Sorry, Lieutenant. Mein kostbares Gras teile ich nicht.«
»Nein, nein, darum geht es nicht«, versicherte Tubber hastig. »Vielmehr möchte ich Sie bitten, uns morgen von Dresden aus nach Pirna und zurück zu bringen.«
Nach einigen Sekunden des Abwägens schüttelte Sergeant Kerouac den Kopf.
»Nein, daraus wird nichts. Der Umweg ist zu groß. Die Verspätung würde auffallen, und dann gäb's richtig Ärger für uns.«
»Ich verstehe. Entschuldigen Sie, falls die Bitte zu aufdringlich war.«
»War sie nicht. Ich kann sie halt nur nicht erfüllen«, sagte Kerouac und warf den Stummel der Zigarette nach einem letzten Zug ins Feuer. »Sie werden sich in Dresden ein anderes Taxi nach, na, Pirna suchen müssen. Mir will zwar nicht in den Kopf, was Sie in die Nähe dieser verseuchten Einöde treibt, aber das geht mich ja auch nichts an. Egal, gehen wir jetzt schlafen. Bei Morgengrauen fahren wir weiter.«
Der Sergeant und der Private kletterten auf die Ladefläche des Lastwagens, um bei der Ladung zu schlafen, während sich Tubber und seine Weggefährten in grobe Armeewolldecken hüllten und sich rund um das ruhig brennende Lagerfeuer niederlegten.
Obwohl, oder eher noch weil er schon während der Fahrt eingedöst war, fühlte Tubber sich wie gerädert. Er war dankbar für einen Schlafplatz, der nicht rumpelte. Nach wenigen Sekunden schlief er aller Sorgen zum Trotz tief und fest.
15. März, 5:00 Uhr
Lange vor dem ersten Morgengrauen erwachte Tubber aus einem traumlosen Schlaf. Jeder einzelne Knochen, jedes Gelenk in seinem Körper schien zu schmerzen.
Die Wolldecken hatten nicht verhindert, dass die in feuchter Luft und auf kaltem Boden verbrachte Nacht ohne Gnade zuschlug.
Das Feuer war heruntergebrannt bis auf ein ruhiges Glimmen. Dann und wann knackte es zwischen den gemächlich verglühenden Scheiten.
Tubber ließ den Blick ohne Eile über die noch Schlafenden wandern. Eng in Decken gewickelt lagen sie um die Feuerstelle, das schwache rötliche Licht fiel auf ihre Gesichter. Es hatte Mitleid mit Günter Dünnbrot und nahm seinen Zügen ein wenig von der verbitterten asketischen Härte; es veränderte Chantal Schmitt vollkommen, ließ die selbstbewusste Stärke verschwinden und dafür eine verletzliche Traurigkeit erscheinen; und es verlieh Greta Donath zusätzlich zu ihrer realen Schönheit eine feenhafte, weiche Aura.
Es ist schon seltsam , dachte Tubber. Sie sind nur hier, weil ich irgendwie in ihr Leben geraten bin. Noch vor ein paar Tagen hatte keiner von ihnen damit gerechnet, diese Nacht unter freiem Himmel am Rand einer Autobahn zu verbringen. Sie konnten es nicht wissen, niemand konnte es wissen, dass da schon Dinge in Gang geraten waren, die letztlich zu dieser Situation führten. Wie unsichtbare Mechanismen, die mit mathematischer Zwanghaftigkeit genau auf diesen Punkt hingeführt haben. Ach, Blödsinn. Nein, das war einfach eine Reihe von Zufällen. Aber trotzdem ... Er sah hinauf zu den Sternen, die manchmal zwischen den schwarzen Wolken hervorblitzten. Sein Blick verlor sich in der Unendlichkeit.
Ein seltsames Gefühl kam über ihn. Ihm war, als würde seit einiger Zeit jeder seiner Schritte, jede seiner Handlungen, ja selbst jeder seiner Gedankengänge ausgetretenen Pfaden folgen. Und je länger er im Rückblick nachsann, desto mehr nahm der Eindruck überhand, dass er seit seiner Ankunft in Hamburg, vielleicht sogar schon seit der Rückkehr aus Indien, keine Entscheidung getroffen hatte, die nicht bereits vorausbestimmt gewesen war. Andererseits aber, das spürte er deutlich,
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